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Kenner und Erforscher der Geschichte der wirthschaftlichen Betriebs-
formen, Prof. Bücher in Leipzig, davon gegebenhat. Die landwirth-
schaftliche Beschäftigung kommt hiebei nur ganz untergeordnet oder
selbst gar nicht mehr in Betracht; ein Unterschied gegenüber der reinen
Fabriksarbeit besteht nur darin, dass der Arbeiter nicht in der Fabrik,
sondern im eigenen Wohnhause arbeitet. Diese Art der Hausindustrie ist
also nichts anderes als eine decentralisirte Fabriksarbeit. Durch eine
solche Art des Betriebes wird es begreiflichermaßen möglich, die ver-
schiedenen sanitären und socialen Unzukörnrnlichkeiten zu vermeiden, die
der eigentliche Fabriksbetrieb für den Arbeiter häufig im Gefolge hat.
Es ist leicht einzusehen, dass das System der Hausindustrie dem
vorarlbergischen Landvolke, das ja selbst in der Rheinniederung noch
halb und halb den Charakter eines Gebirgsvolkes bewahrt hat, weit
besser behagt als der eigentliche Fabriksbetrieb. Als nun im Laufe der
Siebziger Jahre von der benachbarten Ostschweiz aus in Folge einer stetig
steigenden Nachfrage nach Maschinstickereien Versuche gemacht wurden,
das vorarlbergische Landvolk zur Betheiligung an diesen Arbeiten heran-
zuziehen, fanden diese Versuche das bereitwilligste Entgegenkommen.
Da auch die von den St. Galler Verlegern gezahlten Löhne wenigstens
eine Zeit hindurch verhältnissmäßig hohe waren, wuchs die Zahl der
Stickmaschinen im Lande in schwindelhafter Progression von 187 im
Jahre r876 auf 1404 im 1888 und auf 3057 im Jahre 1890. Die Maschin-
stickerei absorbirte dermaßen die vorhandenen Arbeitskräfte des nicht
allzudicht bevölkerten Landes, dass die großen Weberei- und Spinnerei-
Fabriken sich vielfach mit Heranziehung auswärtiger, italienischer Arbeits-
kräfte behelfen mussten.
Man kann sich leicht denken, dass ein so rapides und überstürztes
Eindringen einer bisher unbekannt gewesenen Technik nur auf Kosten
der Güte der Ausführung geschehen konnte. Der vorarlbergische Land-
mann lernte die Maschine wohl schlecht und recht handhaben: zu einem
tüchtigeren Können brachten es aber _nur die Wenigsten, die eben so
glücklich veranlagt waren, dass sie auch ohne gründlichen und aufklärenden
Unterricht sich autodidaktisch ein vollkommeneres Verfahren anzueignen
wussten. War also schon die Waare an und für sicheine grobe, die aus
Vorarlberg kam, so mangelte es vollends an gehöriger Appretur und
den vielfach unvermeidlichen Nachbesserungen, die nicht die Maschine
selbst besorgte, sondern die mit der Hand gemacht werden mussten. In
der That wurde fast alle feine Arbeit in der Schweiz gemacht, von
Vorarlberg blos die gröbere, rninderwerthige bezogen. Als nun eine
Reihe von Jahren kam, in welchen die Nachfrage weniger auf ordinäre
als auf feinere Waare gerichtet war, da konnte es nicht ausbleiben, dass
der ursprünglich so glänzende Aufschwung der Vorarlberger Stickerei
in's Stocken gerieth, ja schließlich sogar eine Krise zu drohen schien.