2 ÜRTHEILE neu PRESSE
selbst in diesem erleuchteten Jahrhundert zu den Seltenheiten. wenigstens
soweit es sich um moderne Kunst handelt. Es fehlte bis jetzt in Deutsch-
land an einer, die grosse Bewegung in der Kunst richtig beurtheilenden
und darstellenden Geschichte - bis jetzt; aber seit einigen Wochen halte
ich den Beweis in Händen, dass. diese geschichtslose Zeit ein Ende hat,
und sich die bedeutsamste Kunst von heut in einem Spiegel sehen kann,
ohne über eine böse Verzerrung zu erschrecken. Dieser Beweis ist die
erste Lieferung von Richard Muthers vGescbichlz der Maleni im mun-
(elmien juhrhunderla (G. Hirth in München).
Es ist vielleicht gewagt, aus dern ersten Zehntel eines Werkes einen
Schluss auf dessen Gesammtinhalt zu machen; aber Muther gibt in dieser
ersten Lieferung zugleich sein Programm, das meiner Meinung nach zu
dem Schönsten und Treffendsten gehört, was über die Kunst geschrieben
worden ist, und das sich jeder Kunstschriftsteller als Gesetz für seine
Thitigkeit einprägen sollte. Aber was die Hauptsache ist: Muther hält
sich an sein Programm, und wenn auch die folgenden Lieferungen er-
füllen, was die erste verspricht, so haben wir in seiner xGeschichte der
Malerei im neunzehnten Jahrhunderte ein Werk, auf das die Künstler
sowohl, als die Gelehrten, ja, worauf das ganze Deutschland, soweit es
der Kunst nahesteht, stolz sein darf.
In seinem Buche zitirt Muther ein prächtiges Wort des Michel An-
gelo: )Wer hinter den Anderen hergeht, geht nie an ihnen vorüberc;
ich glaube, es ist Muthers Devise geworden, so sorgsam vermeidet er,
in die traditionellen Geleise der alten Kunstgeschichtsschreiberei zu ge-
rathen. Den ersten rDas Vermächtniss des I8. Jahrhunderts: betitelten
Abschnitt schliesst Muther mit einer ausserordentlich feinen Betrachtung
wTradition und Freiheitc, in der er den Uebergang von der alten Kunst
zur neuen mit Klarheit und Geist in seinen Grundzügen beleuchtet. Es
ist hier nicht der Ort, durch Auszüge aus dem Werke Muthers die Art
seiner Auffassung wiederzugeben. Sie ist von jener echten Liebe für die
Kunst erfüllt, welche ihr Geschichtsschreiber besitzen muss, und unter-
scheidet sich wesentlich von jenen nSchiffskatalogenc, die das Produkt
trockenster Wissenschaftlichkeit sind und auf Künstler und Laien gleich
abschreckende Wirkung ausüben.
Muther geht ganz subjektiv zu Werke, lasst manche Grössen fallen,
um zu zeigen, dass nicht sie, sondern weniger Beachtete die Träger
des wirklich künstlerischen Gedankens waren. Seine Darstellungsweise ist
ausserordentlich lebhaft und fesselnd. Man kommt auch nicht einmal in Ver-
snchung, eine Seite zu überschlagen, weil das Interesse von Anfang bis zu
Ende festgehalten und an sehr vielen Stellen auf das Höchste angeregt Vwird.
Ein abschliessendes Unheil über Richard Muthers xGeschichte der
Malerei im neunzehnten Jahrhundert: kann selbstverständlich erst dann
abgegeben werden. wenn das Werk vollständig vorliegt; aber ich hielt
einen besonderen Hinweis auf dasselbe schon jetzt für geboten, weil das
Bedürfniss nach einer Kunstgeschichte, die der modernen Kunst thatsäch-
lieh gerecht wird, und das setze ich nach der ersten Probe von der
Muthefschen voraus _ so gross und dringend ist, dass man nicht früh
und freudig genug verkünden kann: Das Langersehnte wird Ereigniss.