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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1894 / 9)

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Und - freuen wir uns! - das Wiedererobern fast verlorener Kunst- 
gebiete vollzieht sich zum Glück in unserer Periode des raschen Wirkens 
in intensiverer Weise, als es vielleicht vor Zeiten möglich gewesen wäre. 
Unter der Einwirkung einer mächtigen Bewegung, die im Ver- 
laufe der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts fast alle Staaten der civi- 
lisirten Welt zur Stellungnahme in der kunstgewerblichen Reformfrage 
führte, konnte es gelingen, längst abgerissene Fäden der Tradition wieder 
aufzufinden und weiterzuspinnen, das künstlerische Verständniss aber 
auch durch die neue, wieder hervorgerufene Einwirkung wissenschaft- 
licher Erkenntniss zu begründen und zu befestigen. 
Unser, die Höhe seiner Aufgabe erkennende Künstler wird nicht 
in gedankenloser Nachahmung älterer Schöpfungen, deren Werth er viel- 
leicht nur auf das Wort einer Autorität hin als unanfechtbar betrachtet, 
sein wichtigstes Bildungsmittel erblicken. Aber er wird wissen müssen, 
wie weit Andere vor ihm auf ihrer Bahn vorwärts gelangten und ge- 
langen konnten; wird ihre Vorzüge nacheifernd zu erfassen trachten; 
wird nach den Grundsätzen und den Mitteln ihrer Kunst forschen und 
das Aufgefundene praktisch erproben. Er wird im Sinne des Besten und 
von ihm als mustergiltig Erkannten zu schaffen versuchen und, wenn 
ihm das Schicksal wohl will, noch um einen Schritt weiter kommen als 
sein Vorbild. Er darf den reichen Schatz des durch Jahrhunderte schritt- 
weise Errungenen nicht undankbar zurückweisen, denn seine Kraft allein 
reicht nicht aus, die unzähligen Erfahrungen selbst für sich zu gewinnen, 
welche Generationen vor ihm nur mühevoll gesammelt haben. Den 
überreichen überlieferten Formenschatz wird der Künstler zuerst ver- 
stehen müssen, ehe er an die Vermehrung desselben denken kann; dann 
aber mag er mit frohem Muth auch nach dem Schatz: greifen, den 
ihm die ewig junge Natur darbietet. Gleichwie aber seine Vorfahren in 
der Kunst nur in dem Grade, als sie die Erscheinungen-der natürlichen 
Formenwelt zu erklären und zu begreifen im Stande waren, auch die 
Fähigkeit erlangten, sie bildlich wiederzugeben, so wird auch ihm der 
volle Nutzen des Naturstudiums erst dann werden, wenn das errungene 
Verständniss des physiologisch Gesetzmäßigen der geschaoten Dinge ihn 
befähigt, in vollbewusster Weise deren bildliche Wiedergabe durchzu- 
führen und dabei das Unwesentliche von dem Wesentlichen, das Zu- 
fällige von dem Regelmäßigen zu scheiden und abzustoBen. 
Auf solche Weise wird es ihm auch möglich, das Wesentliche der 
Naturformen in so idealer Vereinfachung zu erfassen, dass er dieselben 
mit den geringsten ihm zu Gebote stehenden Darstellungsmitteln voll- 
kommen charakteristisch zu versinnlichen im Stande ist. 
Die Auswahl der Mittel wird er von den seine Arbeit begleitenden 
Umständen abhängig machen. Er muss der verschiedenen, ihrer Be- 
handlnng und ihrer Wirkung nach weit auseinander gehenden Mittel mit 
gleicher Bequemlichkeit sich zu bedienen in der Lage sein. So gelangt
	        
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