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Denselben Weg, den die Vergangenheit gewandert ist, sehen wir
auch eingeschlagen von der zeitgenössischen Kunst eines Landes, dem
wir durch Jahrhunderte willig die Führerrolle zugestanden haben. Man
ist gewohnt, die italienische Grabsculptur der Gegenwart geringschätzig ab-
zufertigen. Ein Gang durch die Friedhöfe von Mailand, Bologna, Florenz und
Rom lehrt uns in der That ganz sonderbare Dinge kennen. Dieselben Erschei-
nungen, welche unsere sepulcrale Kunst, bestimmen, finden wir dort in
crassen Uebertreibungen wieder: Sclavische Copien von Werken früherer
Zeiten, Allegorien, in denen der ganze Bilderreichthum der italienischen
Sprache einfach in die Plastik übertragen wird, und maßlose Darstellungen
des Schmerzes der Ueberlebenden. Bei Weitem aber überwiegen die Bilder
der Todten. Wir wandeln förmlich unter versteinren Menschen. So wie
wir sie soeben in der Stadt, auf der Strasse, im Caffeehause, in der
Kirche gesehen haben, erscheinen sie hier, in Marmor verwandelt. Da
sitzt bequem in einem Lehnstuhl ein junger Mann, der in einem Buche
liest, dort steht ein OHicier in Uniform mit Säbel und Feldstecher, da
promenirt eine Dame in Soireetoilette mit Spitzenf-ichu und Fächer, dort
kniet sie in Andacht versunken auf dem Betschemmel; überall virtuose
Behandlung des rein Aeußerlichen, nirgends künstlerische Empfindung oder
innerliche Belebung. Wir mögen entrüstet und empört sein über solche
Profanirung der Kunst, aber das enthebt uns doch nicht der Ver-
pilichtung, nach den Gründen dieser Erscheinung zu forschen. Wir
finden sie darin, dass die italienische Kunst der Gegenwart, wie keine
andere unserer Zeit, durch und durch national ist. Wie sich das ganze
Land wieder auf eigene Füße stellt und nicht mehr der Erbe, der von
dem hinterlassenen Gute reicher Ahnen zehrt, sein will, so macht sich
auch seine Kunst selbständig. Mit revolutionärem Ungestüm verwirft sie
die alten Traditionen und hört nur auf die Forderungen der Gegenwart.
Wenn aber diese verlangt, dass die Grabsculptur volle Bilder des Lebens
darstelle, ist dies nicht "eine Wiederkehr des treibenden Gedankens der
griechischen Kunst, der sich hier mit römischer Realistik zu einem Ganzen
verbindet, freilich zu einem Ganzen, dem zu harmonischer Wirkung die
Idealität fehlt?
Einer directen Uebertragung der modernen italienischen Grabsculptur
auf unsere Friedhöfe wird natürlich-Niemand das Wort reden können.
Aber der Grundgedanke ist richtig und wenn er nur einmal, alt eingewur-
zelte Vorurtheile hinwegfegend, bei uns sich einbürgern wird, wird er der
Ausgangspunkt einer neuen Phase der sepulcralen Kunst werden. Dass
ihm die Gefühle und Wünsche unserer Zeit entgegenkommen, beweist
die stetig zunehmende Vorliebe für Porträtmedaillons und Porträtbüsten
an unseren Grabmälern. Aber eine noch so reichliche Anbringung von
Porträts an den Denkmälern bedeutet noch keine befriedigende Lösung
des Problemes. Wie dieses in endgiltigem Sinne gelöst werden kann, das
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