Rudolf Bachleitncr
ENTWURF FÜR DAS
ALTARBILD „WUNDER DER
HEILIGEN AGNES"
VON JACOPO TINTORETTO
In der Capella Contarini der Kirche Maria
Geburt (Madonna delPOrto) in Venedig
befindet sich ein wahrscheinlich von Tomaso
Contarini (1488-1578) gestiftetes Altarbild
„Wunder der heiligen Agnes", das, wie
schon Vasari und Borghini erwähnen, von
Jacopo Tintoretto gemalt wurde. Die
Contarini gehören zu einem der ältesten
venezianischen Adelsgeschlechter und
brachten viele berühmte Männer im Laufe
der Geschichte Venedigs hervor.
Das Bild zeigt eine Begebenheit aus der
Legende der hochverehrten römischen
Märtyrerin Agnes. Die heilige Jungfrau
erweckte durch die Kraft ihres Gebetes
den jungen Licinius wieder zum Leben,
obwohl er versucht hatte, ihr Gewalt
anzutun. und deswegen getötet wurde. Sein
Vater, der Präfekt von Rom, und eine
Menge Volk nehmen erregt Anteil an dem
wunderbaren Geschehen, während Engel aus
himmlischen Höhen herabstürzen und den
Siegeskranz für die standhafte Heldin her-
beibringen.
Die meisten Kritiker haben im Anschluß
an Henry Thode, der in deutschen Landen
Jacopo Tintoretto zuerst wiederentdcckte,
dieses Bild unter die Frühwerke eingereiht.
Hadeln datierte es um 1560, Adolfo Venturi
noch später. Luigi Coletti versuchte die
Datierung ins sechste Jahrzehnt zu schieben.
Hans Tictze rückt es wieder in die Nähe
des Bildes „Wunder des heiligen Markus",
jenes Bildes, mit dem Tintoretto 1548 in
Rivalität zu Tizian trat. Karl Maria Swoboda
rückt es an den Beginn seiner mittleren
Schaffcnsperiode.
Eine Skizze zu dem Altarbild der heiligen
Agnes im Kaiser-Friedrich-Museum in
Berlin (Nr. 1724) zeigt bei Ähnlichkeit der
allgemeinen Anordnung so beträchtliche
Unterschiede der Komposition und des
Stiles, daß man sie eher für einen Kon-
kurrenzentwurf von anderer Hand (wahr-
scheinlich Schiavone) halten möchte.
Jacopo Robusti, genannt Tintoretla (: das
Färberlein), weil sein Vater das Seiden-
färberhandwerk ausübte, lebte von 1518
bis 1594 und hat zeit seines Lebens seine
Vaterstadt Venedig fast nie verlassen.
Seine Grabstätte befindet sich in der Kirche
Madonna delliOrto, in der auch einige
seiner bedeutendsten Gemälde bewundert
werden können. Herangeschult in der
Werkstatt Tizians, entwickelte sich Tinto-
retto zur führenden Künstlerpersönlichkeit
der Übergangskunst von der Renaissance
zum Barock. Obwohl auch er zu jenen
zählte, welche die Höhe der Hochrcnais-
sanee in Venedig länger festhielten als
anderswo, ist in den meisten seiner Werke
der innere Kampf zwischen frühen und
späten Kunstrichtungen zu spüren. Weil
Tintoretto nicht nur in jeder Manier seiner
Zeitgenossen zu malen verstand und weil
ihm die Formqualitaten der ganzen italie-
nischen Kunst des 16. Jahrhunderts als
Voraussetzung und als Quelle für seine
Kunst gedient haben, wird die historische
Sichtung seiner Werke nicht nur erschwert,
sondern es können bei Datierungsfragen
immer wieder Meinungsverschiedenheiten
auftreten. Die Autorschaft Tintorettos ist
bei dem Agnes-Bild zwar unzweifelhaft,
doch ist die Frage der zeitlichen Einordnung
in sein (Euvre noch nicht endgültig ge-
klärt.
Vor kurzer Zeit ist eine in Wiener Privat-
besitz befindliche Farbskizze (Abb. 2)
bekannt geworden, die eindeutig als vor-
bereitende Studie fiir das Kirchenbild in
der Capella Contarini (Abb. l) und als
ein Werk Tintorettos zu bestimmen ist.
Die Entwurfsskizze ist mit dem dazuge-
hörigen antiken Renaissancerahmcn (Holz,
Silber vergoldet) oben ebenso abgerundet
wie das Altarbild selbst. Das Bild, Öl auf
Leinwand, rnißt in der Höhe 80,7 cm und
in der Breite 48 cm; es wurde vermutlich
schon vor längerer Zeit rentoilliert, und
zwar auf eine in Fischgrätmuster ge-
webte Leinwand.
Das wunderbare Ereignis um die heilige
Agnes läßt Tintoretto im Freien, im Schat-
ten eines rechts hoch aufragenden Gebäudes
spielen. Die steile Bildliächc wird kon-
trastierend in eine beschattete irdische
Zone unten und in eine hellere himmlische
oben geteilt. Die vordere Raumbühne ist
dichtgedrängt mit Personen gefüllt. In dem
dahinter gedachten helleren Freiraum ver-
hindert der Prospekt einer antiken Ideal-
architektur, in zum Teil ruinösem Zustand,
den Fernblick, indessen aus einer Himmels-
sphäre im Flug herabstürzendc Engel den
Siegeskranz für die heilige Agnes bringen.
Zwei anderen auf Wolken schwebenden
Engeln fehlen auf der Skizze die Köpfe,
weil sie zu hoch an den oberen Bildrand
geschoben wurden. Das scheint sich un-
gewollt aus der bekannt raschen Arbeits-
weise Tintorettos ergeben zu haben.
Ein virtuos ausgedachtes Kompositions-
schema bringt nicht nur dramatische Be-
wegung in die dekorative Personengruppe,
sondern lenkt den Betrachter bewußt auf
die beiden Hauptpersonen Agnes und
Licinius. Eine aus Figuren gebaute Dia-
gonale durchschneidet die untere Bildhälfte
in zwei Teile, von links unten nach rechts
oben. Der schräg am Boden liegende Licinius,
der von einem Freund gestützt wird, bildet
mit der hinter ihm kniendm Agnes und dem
vor ihr stehenden herkulischen Präfekten
Symphonius jene Diagonale. Ihr entspricht
eine andere, die dadurch entsteht, daß eine
rechts ins Bild stützende Gruppe leiden-
schaftlich auf Licinius zueilt. Die heroi-
sierte Gestalt der heiligen Agnes, nur
wenig aus der Bildmitte nach links ge-
schoben, leuchtet silbern-weiß aus dem
Dunkel der sie umgebenden Menschen; sie
ist der optische Mittelpunkt des Bildes. Von
ihrem Schimmer fällt überirdischer Glanz
auf alle Anwesenden. Man ist unwillkür-
lich an die Formulierung der Legenda
aurea erinnert: „Es stund aber ein Engel
da und gab ihr ein lichtes Gewand, dessen
Glanz das ganze Haus erfüllte."
Mit den vielen porträtmäßig wiedergege-
benen Personen sind wahrscheinlich die
Mitglieder der Familie Contarini gemeint.
Unmittelbar hinter Agnes fällt ein Edelmann
in metallenem Harnisch, der ihren Mantel-
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