DIE
KRISE
IST
ERÖFFNET
RANDBEMERKUNGEN ZUR XXVIII. BIENNALE IN VENEDIG
WERNER UOFMANN
Als man in den "Giardini", dem riesigen Ausstellungspark Ve-
nedigs, die letzten Vorbereitungen zur Eröffnung der diesjähri-
gen „Biennale di Venezia" traf und bereits die Journalisten aller
Erdteile durch die Pavillone hasteten, da wurde zum ersten
Male eine Frage besprochen, die von kritischen Stimmen be-
reits vor zwei Jahren gestellt worden war: ist die Bicnnale in
eine Krise geraten? Vor zwei Jahren konnte man die Warner
noch üherhören, heuer haben ihnen die Jlttsachen recht ge-
geben. '
Um die gegenwärtige Situation zu begreifen, muß man sich das
ursprüngliche Konzept der venezianischen Kunstmesse vor Au-
gen führen und sodann die Entwicklung streifen, die diese Ver-
anstaltung in den letzten Jahren (nach der durch den Zweiten
Weltkrieg hervorgerufenen Zäsur) genommen hat. Als 1895 die
erste Biennale stattfand, wurde sie von fünfzehn Ländern (dar-
unter ztuch Österreich) beschickt. 1956 stellen vierunddreißig
Staaten aus. Die Biennale ist nicht mehr eine Angelegenheit
künstlerischen Vergleiehens und Wertens, sondern des nationa-
Abb. l Lyonol Folntnger: Fonxlor olncv Fnbrik än Manhnlnn (1949)
len Ansehens. Man hegt den Verdacht, daß in manchen Ländern
der Gedanke zur Teilnahme nicht von den Kunstbehörden, son-
dern von den Politikern entwickelt wurde. Ein Beweis mehr da-
für, wie das internationale Parkett auch in künstlerischen Fra-
gen die politischen Kräfteverhiiltnisse der Gegenwart widerspie-
gelt. Nehmen die ausstellenden Staaten zu, so verzeichnet das
Büro der Biennale stolz eine Erweiterung unseres Wissenshori-
zontes, - doch übersieht es die bedauerliche Tatsache, daß je-
des ausstellende Land innerhalb des ihm zur Verfügung stehen-
den Raumes völlig frei schalten kann. Dies bedeutet nach der
gegenwärtigen Lage der Dinge, daß Länder, die künstlerisch
an der Peripherie leben und sich an den Idealen vom Vorgestern
ausrichten (müssen), inmitten eines Ensembles, das die besten
Künstler der Gegenwart zu vereinigen versucht, unbehelligt ihre
Kitschproduktion ausbreiten können. Es wäre notwendig, daß
einmal ein Komitee der besten Kunstkritiker eindeutig eine un-
tere Grenze festlegt, die nicht unterschritten werden darf.
Bedenkt man, daß bei den Diskussionen der Jury über die
Großen Preise politische, ja sogar russische Rcssentiments zur
Sprache kommen oder wenigstens deren Verlauf dirigieren, so
bedauert man, daß diese Jury in ihrer Zusammensetzung so
etwas wie eine reduzierte Ausgabe einer UNO-Sitzung darstellt.
Die Empfindlichkeiten gewisser kleiner Staaten müssen berück-
sichtigt werden; die Hoffnung anderer, welche glauben, ihre
Teilnahme an der Biennale sichere ihnen eo ipso einen Preis,
darf nicht allzu bitter enttäuscht werdempolitische Großmächte,
die auch über starke künstlerische Persönlichkeiten verfügen, tun
gut daran, ihre Stimme so selten wie möglich zu erheben, um
nicht das Mißtraucn der Habenichtse zu erwecken. All dies
wird vor dem Hintergrund einer großen allgemeinen Lint-
spannungsatmosphäre der Weltpolitik ausgetragen und man
scheut sich, gewisse Wahrheiten auszusprechen, da sonst zu be-
fürchten wäre, daß 1958 ein paar Staaten weniger ausstellen.
Und obwohl die Biennale solcherart immer mehr zu einer Mu-
stermesse unter den Auspizien des Fremdenverkehrs wird, die
bald nur mehr in ihrer Aufmachung mit Kunst zu tun haben
wird, erhebt sie immer mehr den Anspruch, den Pulsschlag der
Gegenwartskunst zu vermitteln.
Man wird dem mit Recht entgegenhalten, daß diese Entwicklung
durch die von Rodolfo Pallucehini eingeführten großen The-
menausstellungen (Surrealismus, De Stijl, Kubismus usw.) und
durch die Retrospektiven (Munch,Courbet) eine Zeitlang über-
schattet worden war. Daß sie einmal offenbar werden mußte, war
jedoch von allem Anfang an klar: auch die künstlerischen The-
men unseres Jahrhunderts, also die wichtigsten Strömungen und
Ausdrucksrichtungen - mußtcn sich über kurz oder lang cr-
schöpfen, - und was blieb übrig, sobald ihr Rückgrat fehlte?
Auch die Namen für große Retrospektivausstellungen schmol-
zen allmählich zusammen, zugleich machten verschiedene Ver-
anstaltungen in europäischen Kunststädten das Problem der
„Parallelaktion" zu einem neuen Sorgenkind der Veranstalter.
Bereits vor zwei Jahren war die Courbet-Ausstellung der Biennalc
nur ein Auszug aus der Pariser Schau und die Werke Munehs
wurden fast zur gleichen Zeit in einer von der Osloer Regierung
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