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Volltext: Alte und Moderne Kunst I (1956 / Heft 2)

und Verbote für neue Niederlassungen abzielte, endgültig zu 
Ende und es erfolgte für viele Gewerbezweige die vollständige 
Freigabe; andererseits wurde schließlich trotz mehrerer kaiser- 
licher Verordnungen, die vor allem um die Zusammendrängung 
großer Arbeitermassen im Gebiet von Wien und seinen Voror- 
ten zu verhindern, nicht nur jede Neugründung innerhalb eines 
Umkreises von zwei bis sechs Meilen von den Vororten an un- 
tersagte, sondern überhaupt alle Industrieunternehmungen aus 
Wien verdrängen wollte, was gerade die Seidenfabrikation mit 
der tatsächlichen Vernichtung bedrohte, doch die Konzentration 
gerade dieser Industrie in Wien zur Tatsache, teils durch nicht 
genaue Befolgung teils durch baldige Aufhebung dieser Ver- 
ordnungen. Damit war der Seidenweberei der Weg zur Indu- 
strialisierung geöffnet. 
Zwei weitere sehr wesentliche Tatsachen aber bewirkten erst 
die Durchführung aller bereits gebotenen Möglichkeiten. Trotz 
der großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die gerade das 
zweite Jahrzehnt des 19. jh. erfüllten. und die im Jahr ides 
Staatsbankrotts 1811 und dem Notjahr 1817 ihre schärfsten 
Krisen erreichten, eröffnete diese Zeit der Seidenweberei doch 
wieder ungeahnte Möglichkeiten. Durch den Erwerb der ober- 
italienischen Seidengebiete stand nunmehr das beste Rohmaterial 
in unbegrenzter Fülle zu Gebote. Mit einem Schlag war Öster- 
reich zum größten Seidenproduzenten Europas geworden. Ein 
Jahrzehnt zuvor war die entscheidende Erfindung für die ganze 
weitere Entwicklung der Weberei geschehen. 1805 war nach 
vielen ähnlich gerichteten Versuchen dem Franzosen jacquard 
die Konstruktion des mechanischen Webstuhles, der die mühe- 
volle und langwierige Arbeit des Ziehers ausschaltete, gelungen. 
Zahlreiche Versuche und eigene Erfindungen hatten gerade in 
Wien den Boden so gut vorbereitet, daß diese entscheidende 
Neuerung sehr bald und in großem Umfang Eingang und Auf- 
nahme fand. Damit hatte die Seidenweberei aus sich selbst den 
wesentlichen Anstoß erhalten, der sie in die Lage versetzte, die 
von außen gebotenen Möglichkeiten zur Ausbildung der neu- 
zeitlichen Industrialisierung auch voll auszunützen. Auf völlig 
neuer Grundlage war in den ersten beiden jahrzehnten des 
19. jh. die Seidenweberei zum bedeutendsten Industriezweig 
Österreichs geworden. Schon 1813 waren in Wien gegen 10.000 
Menschen in der Seidenindustrie beschäftigt, der Wert der jähr- 
lichen Erzeugnisse betrug in dieser Zeit allein bei der Firma 
Mestrozzi bereits 1,S00.000 fl. Diese politisch und wirtschaft- 
lich in so vielen Belangen äußerst schwierige Zeit brachte damit 
die größte Blüte der Wiener Seidenweberei. Bis zur Mitte des 
19. Jh. besaß Wien nach Lyon nicht nur die umfangreichste, son- 
dem auch die bedeutendste Seidenerzeugung Europas. i 
Den führenden großen Fabriken standen jetzt die Mittel und 
Möglichkeiten zur Verfügung, um alle verschiedenartigsten Stoff- 
arten in reichster Fülle zu erzeugen: Von Samten und schweren 
Brokaten bis zu den zartesten Dünntüchern, vom glatten Taft 
bis zu den reichsten vielfarbigen Blumenmustern. Die großfor- 
mig dekorierten Stoffe für Wand- und Möbelbespannung treten 
jetzt mehr zurück, dafür entfalten sich die modischen Kleider- 
stoffe zu größter Fülle und besonderem Abwechslungsreichtum. 
Dem raschen Modewechsel folgend, werden billigere und leich- 
tere Stoffe bezorzugt, die in ihren hellen, meist buntfarbigen 
Mustern immer wieder neue Motive und schier unerschöpfliche 
Variationsmöglichkeiten bringen. Der Wunsch nach Neuem und 
Abweehslungsvollem, der vor allem die Stoffe für die Damen- 
moden beherrscht, regt hier die Phantasie der Entwerfer, wie 
die Kunstfertigkeit der Ausführenden ständig an. Von lang- 
florigen und gekräuselten Pelzimitationen, den sogenannten Fel- 
pelstoffen, bis zu den hauchzarten Geweben der Umhängetücher 
und des Hutschmuckes, von den pastellfatbigen Chineeblumen 
auf hellgetöntem Taft bis zu den dezent und dunkelfarbig ge- 
musterten Samten und Ripsen der Herrenwesten, entfaltet sich 
der Naturalismus der Blumenmuster zu immer neuen Möglichl 
keiten. 
Diese naturalistischen Blumenmuster, die ihren Ausgang von den 
an Ranken angeordneten Blumenbouquets der Louis XVI-Muster 
nehmen, bestimmen immer stärker den Eindruck der Bieder- 
rneierstoffe. Am Anfang stehen Muster, die vor allem in ihrem 
Aufbau noch die Strenge und Klarheit der Zeichnung betonen. 
Blattkränze und stilisierte Rosetten zeigen vor allem in den 
Wand- und Möbelstoffen einen architektonischen Charakter, 
während die Kleiderstoffe zuerst sehr dezente kleinteilige, oft 
Ton in Ton gehaltene Muster bevorzugen. Vor allem gegen 
1830 hin, werden diese Muster dann reicher und bunter; von 
den einfachen Streifen- und Karomustern bis zu vielfarbigen Blu- 
menmustern in lockerer Streublumenanordnung, alles zumeist 
in hellen bunten Farben gehalten, zeigt sich nun ein äußerst 
vielfältiges Bild in allen nur möglichen Stoffarten und den 
verschiedenartigsten Effekten. 
Schon um 1840 dringen auch in die Stoffmuster die Formen des 
zweiten Rokokos ein, die mit ihrer meist dichtgedrängten Fülle 
von Motiven den Grund fast völlig bedecken und ein unruhig 
bewegtes Bild schaffen. Die reichen Muster der späten Bieder- 
meierzeit werden nun mit zumeist aus dem Formenschatz des 
Barock und Rokoko entlehnten Ornamenten verbunden. Auch 
großformigc dekorative Stoffe nehmen jetzt wieder einen brei- 
teren Raum ein. Wenn auch auf anderer Grundlage, so wird im 
zweiten Rokoko doch noch einmal versucht, eine einheitliche 
Dekoration für alle Bereiche zu schaffen und die gewisse Tren- 
nung, die im Biedermeier vor allem zwischen strengen und zu- 
rückhaltender gemustertcn Wanddekorationen und den Vielfal- 
tigen bunten Kleiderstoffen wieder zu überbrücken. Diese Ab- 
sicht, die sich wie in den Stoffen, so auch in allen anderen Be- 
reichen des Kunstgewerbes dieser Zeit ausspricht, war nur für 
kurze Zeit erfolgreich. 
Nach der Mitte des 19. Jh. macht sich eine sehr grundlegende 
Veränderung in steigendem Maße geltend. Entgegen der verein- 
heitlichenden Tendenz der Vierzigerjahre, erfolgt nun im fort- 
schreitenden Historismus ein Auseinanderfallen der verschiedenen 
Bereiche in schärfster Art. Der eigentliche Historismus, der nun 
vielfach zum reinen Kopieren alter Stoffe übergeht, bleibt auf 
die dekorativen Stoffarten beschränkt. In den nun gerade wie- 
der sehr vielfach verwendeten reichen Stoffen für Wand- und 
Möbelbespannung und Draperien, werden vor allem die barocken 
Muster immer wieder verwendet und auch im Bereich der Para- 
mentenstoffc treten Muster aus den verschiedensten Stilen wie- 
der auf. Die Kleidermode - im Biedermeier gerade der Haupt- 
auftraggeber und Abnehmer der reich gemusterten Stoffe - 
verwendet nun mehr und mehr einfarbige oder ganz einfach 
gemusterte Stoffarten: Taft, Atlas, Rips und ähnliches werden 
nun die bevorzugten Kleiderstoffe, die die Einfarbigkeit durch 
reiche Dekoration mit Stickerei, Spitze oder Posamentrie er- 
setzen. Darin spricht sich eine deutliche Scheidung aus, die ihre 
Grundlage im Wesen des Historismus hat. 
In derselben Zeit vollzieht sich auch ein grundlegender äußerer 
Wandel in der Wiener Seidenweberei. Die Konzentration dieser 
Industrie auf Wien nimmt mehr und mehr ab. Mit der fortschrei- 
tenden Industrialisierung und der Entwicklung des Verkehrs- 
wesens, erfolgt nun die Übersiedlung der großen Fabriken von 
Wien weg in die Provinz. 
Die erste Hälfte des 19. jh. ist die Zeit der größten Blüte der 
Seidenweberei in Wien. In diesen Jahrzehnten, in denen vor 
allem im Biedermeier das Wiener Kunsthandwerk eine reiche 
und fruchtbare Epoche erlebt, sind gerade für die Seidenweberei 
besonders glückliche Voraussetzungen zusammengetroffen. Die 
ausklingende Barocktradition und die eigentliche Biedermeier- 
kunst als letzte selbständige Leistung vor dem Beginn des Hi- 
storismus, die technischen Erfindungen und Neuerungen und die 
großen Möglichkeiten, die durch die Erwerbung des lombardo- 
venetischen Königreiches sich boten, bewirkten den künstlerisch 
und wirtschaftlich raschen Aufstieg der Wiener Seidenindustrie 
zu ihrer führendeniStellung in ganz Europa.
	        
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