EXPRESSION
UND
GESTALT
Von JORG LAMPE
Daß man in München seit dem Vorjahr jeweils im Herbst
bedeutende Ausstellungen ins Haus der Kunst holt, ist mehr als
begrüßenswert. Nur gibt es leider allem Anschein nach in Wien
keine zuständige Stelle, bei der gute Beispiele die bösen Sitten
der Untätigkeit verderben könnten. Es bleibt daher dem kunst-
interessierten Österreicher nichts anderes übrig, als, wenn es
ihm seine Mittel nur irgend erlauben, nach München zu fahren
und die kaum je wiederkehrende Gelegenheit der diesjährigen
großartigen Doppelausstellung van Gogh-Cezanne auszunut-
zen. Weist auch die von Cezanne gegenüber Zürich manche
Lücken auf, und könnte van Gogh sicher vollständiger ver-
treten sein, so wird sich doch nur die garantierte Blasiertheit
hieran stoßen. Die mehr als 150 Katalognummcrn aus aller Welt
für Cezanne und die 166 für van Gogh, die hauptsächlich aus
dem Rijksmuseum Kröller-Müller in Otterlo (Holland) stammen,
sind imstande, jeden wirklich erlebnisfähigen Menschen auf das
reichste zu beschenken.
Schon die Möglichkeit, das allen Einschränkungen zum Trotz
durchaus repräsentativ vertretene Oeuvre beider Künstler zu
vergleichen, ist Geschenk genug. Ihr Frühwerk verrät eine ähn-
lich schwere Hand, nur daß Paul Cezanne (1839-1906) von
vornherein mehr nach der Malerei als solcher strebt, während
Vincent van Gogh (1853-1890) ebenso von vornherein sein
Gefühl, seine persönliche Einstellung zu den Dingen zum Maß-
stab des Gestaltens macht. Die mit mehr als 90 Arbeiten belegte
holländische und belgische Zeit bis Februar 1886 bezeugt daher
nicht nur die Mühseligkeit, sondern auch schon das expressive
Gesteigertscin seiner crsten Versuche zur graphischen und male-
rischen Darstellung von natürlicher Erscheinungswelt.
Dieses Gesteigertsein bleibt auch später für die Kunst van Goghs
bezeichnend, nur daß die Berührung mit den Impressionisten
während der Pariser Periode bis Februar 1888 sowohl die Palette
aufhellt, als auch die Pinsel-, Feder- und Bleistiftfültrung lockert.
Doch erst der Aufenthalt im südlichen Arles, nicht weit von
Cexannes Geburtsort Aix en Provence, bis zum Sommer 1889
läßt van Gogh die Freiheit und Gewißheit seines Stils eines
gleichsam rotierenden Bewegungsausdrucks finden. Auch er-
obern sich jetzt erst die reinen Farben seine Leinwand, und die
Sonne, für van Gogh ein magischer Magnet, reißt geradezu den
selber Brennenden in den Strudel ihrer Feuerkraft. Man braucht
nur die „Sonnenblumen", das „Souvenir de Mauve" genannte
Pfirsichbäumehen, die Porträts der Roulins, die beiden Fassungen
des „Pont de Longlois", den „Blick auf Arles" oder die nächt-
liche „Cafeterrasse" anzuschauen, um sich von der Vehemenz
dieses Malers überwältigt zu sehen. Doch nicht nur sein tragi-
scher Konflikt mit Gauguin beweist, daß die Begegnung einer
solchen Natur mit der französischen Rationalität zu beiderseiti-
gen Spannungen und Kontroversen führen mußte, wie sie dann
ja auch tatsächlich zur Verdüsterung von van Goghs Gemüts-
zustand nieht wenig beigetragen haben.
Das Jahr in St. Remy schenkt uns dann wohl noch großartige
Bilder wie das „Mohnfeld", den „Olivengarten", eine neue Fas-
sung der „Arlesienne" vor dem rosa Hintergrund, das „Schau-
spielerporträt" und den hinreißenden, aber sichtlich schon bc-
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Vlncnm vln Gagh (1853-1890), Por-
lrll um: Seluusphlers