Abb. 4. Bildtafel dies Verduner Altares. Szene aus der Zeit unter dem
Gesetz (sub lege): Himmelfahrt des Elias.
leihen wollte - lassen unwillkürlich an antike Statuen denken.
Dabei durchpulst alle Gestalten kräftiges Leben, und sie sind
oft in lebhafter, charakteristischer Bewegung wiedergegeben. Als
Beispiel möge die Himmelfahrt des Elias dienen, den die Hand
Gottes so mächtig zum Himmel emporreißt, daß er dem stau-
nend dastchcnden Elisäus kaum seinen Mantel zuwerfen kann.
So kündigt sich im Werk des Meisters Nikolaus ein neuer Figu-
renstil an. Die Komposition zeigt noch die Geschlossenheit der
älteren Zeit, aber schon gemildert durch sorgfältige Behand-
lung der sich vom Körper langsam lösenden Gewandung, durch
liebevolle Nachbildung der Pflanzenwelt und vereinzelt sogar
schon ein Eingehen auf die seelischen Regungen des Menschen.
Das Werk des Nikolaus von Verdun entstand an einer Zeiten-
wende. Um dic Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vollzog
sich eine der bedeutendsten Wandlungen im abendländischen
Denken. Damals, und nicht erst in der Renaissance, verschob
sich das Schwergewicht des Interesses von der Gemeinschaft
auf das Individuum. Die Gotik ist bereits ein durchaus subjek-
tiver Stil. Die Einzelpersönlichkeit rückt immer weiter in den
Vordergrund des Denkens und Fühlens. Diese folgenschwere
Wandlung ist schon ganz leise bei Nikolaus von Verdun zu spü-
ren. In seinen späteren Werken, an denen sich bezeichnender-
weise der Akzent vom Email auf die Plastik verschiebt, wird
sie noch deutlicher.
Nicht geringere Aufmerksamkeit als die künstlerische Gestal-
tung verdient auch das geistige Programm des Verduner Altars.
Es entwickelt eine grandiose Geschichtstheologie. Schon der ober-
flächlichc Augenschein legt nahe, daß die Bilder nach einem
bestimmten Plan angeordnet sind. Die ganze Bilderwand samt
den beiden Seitcnflügeln ist in drei übereinanderliegende, waag-
rcchte Zonen geteilt, die durch Metallbänder mit der Widmungs-
inschrift voneinander getrennt sind. Und jede dieser drei Zonen
bedeutet ein heilsgeschichtliches Zeitalter. Die oberste, durch
die Inschrift „ante lcgcm" gekennzeichnet, stellt die Zeit vor
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Vorbilder für die gnadenhafte Erfüllung im Neuen Testam
der die mittlere Zone gewidmet ist: die Zeit „sub gratia", ut
der Gnade. Dies ist das messianische Zeitalter, in dem die
samte Menschheit erlöst wurde und in dem wir heute noch lel
Die Bilder sind nun so angeordnet, daß jeweils drei in vertik:
Reihe einander zugeordnet erscheinen: den beiden Vorbild
aus dem Alten Testament (ante legem und sub lege) entspr.
in der Mitte die Erfüllung im Neuen Testament (sub grat
Am Beginn steht die Reihe: Verkündigung Isaaks (ante legt
- Verkündigung Samsons (sub lege) - Verkündigung Chi
(sub gratia) und geht in 15 derartigen Entsprechungen die ga
Heilsgeschichte durch. Einzelne Beispiele seien hier angefül
Durchzug durchs Rote Meer - das eherne Reinigungsbecken
Tempel - die Taufe Christi; Opfer des Melchisedech -
Manna - das Letzte Abendmahl; Joseph wird in die Ziste
geworfen - Jonas wird vom Secungeheuer verschluckt - Gi
legung Christi; Entrückung Hcnochs - Himmelfahrt des E
- Christi Himmelfahrt; Arche Noe - Gesetzgebung auf S
- Herabkunft des HI. Geistes. Und als Abschluß der geschit
liehen Zeitalter erscheint auf den letzten sechs Tafeln des A1
die Vollendung der Zeiten in den Letzten Dingen: Wiederkt
des Herrn, Auferstehung der 'I'oten, Gericht, Himmel, Hölle.
Der Verduner Altar bietet auf diese Art eine grandiose Ül
schau über die gesamte Heilsgeschichte, ein Programm von
gewöhnlicher theologischer Tiefe. Es kommen noch die z:
reichen leoninischcn Hexameter hinzu, die dieses Programm
jedem Bild in geistvoller Weise auslegen, und das reiche Beiw
von Propheten und personifizierten Tugenden mit ihren Te).
und Attributen, die durchweg ihre bestimmte Bedeutung im ,
stigcn Gesamtplan des Werkes haben. Den Verfasser dieses l
nes muß man wohl unter den Chorherren des Stiftes Klos
neuburg suchen. Vielleicht ist Propst Wernher, den die Vl
mungsschrift so ausdrücklich als Stifter hervorhebt, der geis
Vater des Programms. Es ist jedenfalls auf der Theologie
Ordensvatcrs St. Augustinus aufgebaut und zeigt starke I
flüsse der Schriften des Honorius von Augustodunum.
Bei aller theologischen Tiefe ist das Emailwerk des Nikol
von Verdun von großer Anschaulichkeit undunmittelbarer B
wirkung. Es war an der Kanzelbrüstung gleichsam eine Illus"
tion der Predigt für das einfache Volk, das nicht lesen kon
und hier eine Bilderbibel vor Augen hatte. Und mit welc
Liebe das Volk an dem Werke hing, zeigte sich nach dem Brat
im Jahre 1330, als Propst Stephan die Tafeln zur Restaurieri
hatte nach Wien bringen lassen. Dazu schreibt die Kle
Klosterneuburger Chronik: „Die hauer clafften in dem pirg,
(der Propst) hiet die taffl den juden versetzt und hiet dai
gepauet, sam sie noch vill claffen." Man schätzte den Altar
hoch, daß auf den Glasfenstern des Kreuzganges, die nach 11
entstanden, Bilder des Verduner Altars kopiert wurden.
Der Verduner Altar darf nicht allein als künstlerisches u
historisches Denkmal bewertet werden. Er ist auch eines i
frühesten und eindrucksvollsten Zeugnisse der augustiniscl
Geistigkeit im Stifte Klosterneuburg. Von Anfang an war er
Mittel der Seelsorge, aus klösterlichem Geiste entstanden. L
gerade heute sieht das Stift Klosterneuburg in ihm ein grol
Programm vorgebildet. Das Werk hat ein biblisches Thema,
zum liturgischen Gebrauch bestimmt und dient der Belehru
des Volkes: Bibel und Liturgie dem Volke wieder nahezubringi
das ist auch das Ziel der Volksliturgischen Bewegung, die sl
in unseren Tagen von Klosterneuburg aus die Welt erobert h
Was im Werk des 12. Jahrhunderts angedeutet ist, wurde
20. Jahrhundert in die 'l'at umgesetzt.