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Volltext: Alte und Moderne Kunst II (1957 / Heft 3)

Nun, es gibt eine enge Beziehung zwischen beiden; im Vorwort 
zu „Die andere Seite" kann man nachlesen, daß sich Kubin an- 
fangs 1908, nach einer schweren Krise (kurz nachdem seine vom 
späteren Oeuvre so unterschiedene jugend-Stilphase beendet 
war), zu einer Entscheidung aufraffte: „...um dieser tristen 
Stimmung aufzuhelfen und vielleicht den nötigen Ruck wieder 
zu bekommen, reiste ich im Herbst mit meinem Freunde, Fritz 
von Herzmanovsky, nach Oberitalien und Venedig. Ich gab mich 
allen Reiseeindrücken wahllos hin und schon auf dem Heimweg, 
am Gardasee, spürte ich ein zitterndes Verlangen, mich zeich- 
nerisch zu betätigen . .. um nur etwas zu tun, fing ich an, s 'lbst 
eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschrei- 
ben. Und nun strömten mir Ideen in Überfülle zu, peitschten 
mich Tag und Nacht zur Arbeit, so daß bereits in zwölf Wochen 
mein phantastischer Roman „Die andere Seite" geschrieben war. 
In den nächsten vier Wochen versah ich ihn mit Illustrationen." 
Von diesen Illustrationen aber datiert die Kunst Alfred Kubins, 
so, wie sie seit einem halben Jahrhundert ist. 
Wenn es zwischen Kubin und Hcrzmanovsky Zusammenhänge 
gibt, so gibt es sie nicht minder zwischen Herzmanovsky und 
Musil. Wenn man nun - man entschuldige die Angabe tin 
Schlagworten - Musil und Kubin nebeneinander nennt, mag 
man sich überrascht fragen, warum man das nicht schon früher 
getan hat, da doch die Vergleichsmöglichkeiten offen daliegen. 
Und wiederum: Kubin und Kafka? Das paßt zusammen wie 
K. u. K., wie die Häuser der Stadt Perle und die Dachböden im 
„Prozeß", wie Kakanien und Tarockanien . . . 
Herzmanovsky eröffnet einen neuen Blick auf Kubins Lebens- 
werk. Und die Werke beider könnten sich bei genauerer Übtlf- 
legung sehr wohl als das missing link zwischen anderen großen, 
bisnun isolierten Erscheinungen unserer neueren Literatur- 
geschichte erweisen. 
Es mag sein, daß am Ende solcher Überlegungen eine wahrhaft 
atemberaubende Möglichkeit steht: die Möglichkeit, einen spezi- 
fisch östcrreichischen, durchaus eigenartigen und sehr frucht- 
baren Surrealismus zu deskribiercn. 
DIE 
PHANTASTISCHE 
WELT 
DER 
GROTESKE 
Von GERHART EGGER 
In der römischen Kaiserzeit entstand ein eigenartiger Typus von 
Wanddekoration, der sich aus drei Wurzeln ableiten läißt. Diese 
drei Wurzeln sind: 1. die raumerweiternde Arehitekturdarstel- 
lung, 2. die mit Figuren verbundene hellenistische Pflanzen- 
ranke und 3. die malerische Darstellung von Bühnenbildern, 
drei Dekorationen, von denen zwei der illusionistischen Malerei 
und eine der Ornamentik angehören, verbinden sich zu einem 
System mit räumlicher Wirkung. Dieses System, das in der Re- 
naissance nach den „grotte" genannten kaiserzeitlichen Räumen, 
in denen man diese Bilder vorfand, Groteske genannt wurde, 
erhielt von der Arehitekturmalerei seinen illusionistisch-riium- 
liehen Charakter, von der Pflanzenranke den ornamentalen Zug 
und von dem Bühnenbild die Beziehung zu einer vorgcspieltcn, 
aber in sich geschlossenen Welt. Durch das starke Hervortreten 
der Pllanzenranke in diesem System tritt der wirklichkeitsvor- 
täuschende Charakter der Architekturdarstellung hinter die Wir- 
kung eines quasi-architektonischen Phantasiegebildes zurück. In 
dem Übergang vom zweiten zum dritten pompeijanischen Stil läßt 
sich das bis in die zweite Hälfte des Ljlmn. Chr. gut verfolgen. 
Auch an den spärlichen Denkmälern der Zeit nach dem Unter- 
gang Pompeijs läßt sich noch ersehen, daß das System in seiner 
variationsfreudigen exakten Durchbildung mit Abnahme des 
Realismus in der Kunst gleichartig abnimmt und einer Abbre- 
viationsform weicht, in seinem Grundprinzip einer quasi-archi- 
tektonischen Schcinwelt aber auch in einer dünnen Liniendeko- 
ration erhalten bleibt. 
Das Wesen dieses Systems ist im Grunde ein räumliches, in dem 
aber die wirklichkeitsvortäuschenden architektonischen Ele- 
mente, wie Mauern, Säulen, Türme und Ausblicke durch ganz 
unreale Pflanzenranken, Pllanzcnsäulen und Aulbautcn aus ver- 
schiedensten Gegenständen ersetzt werden, die aber den hinein- 
gestellten Figuren ebenso Raum und Umgebung geben, wie lrü- 
her die Architekturen. 
Die pflanzlichen Teile dieses Systems linden im Mittelalter in 
verschiedenen Pllanzenranken, die mit Phantasicwesen kombi- 
niert sind, ihre Fortführung. Diese phantasieanregencle Kombi- 
nation errcicht vor allem in der Buehmalerei des späten 14._]h. 
einen gewissen Höhepunkt. 
Entscheidend aber wird das System für die europäische Kunst 
wieder im Verlauf des 15. jh. in Italien durch eine Wiederauf- 
nahme und Weiterbildung antiker Formen, die durch Ausgrabun- 
gen überliefert wurden. Vor allem durch den Holzschnitt und 
Abb. 1. Pompcjanischc 
Wandmakrci aus dem er! 
sten Jahrhundert n. (Ihr. 
mit raumerweilcrnder Atv 
chitekturdarstellung und 
ornamentalen Pflnnzenms- 
tiven. 

	        
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