EIN KRUZIFIXUS VON TILMAN RIEMENSCHNEIDER
Von ROBERT EIGENBERGER
Abb. l. Kruzitixus von Tilnun Ricmmsehneidex- in der Pfarrr
kirche St. Anton in XVien. dem Konvent der Vinzcntinerinncn
zugehörig. Die durch Kriegscinwlrkung entstandenen Bau-
schätlcu der Kirche luachtcxx eine Renovierung notwendig. Bei
dieser (lelegcxwheil wurde das, wohl gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts im Stil neogutischcx" Fassungen mit dicken Lagen
einer Ncrxgruxuliertmg und ("iltnrbenuuftriigen verschandeln:
Kreuz der Akademie der bildenden Künste zur fachmännischen
Beurteilung übergehen. Die Erwartungen der Restauratoren
wurden voll bestätigt.
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In der Pfarrkirche von St. Anton in Wien (XV. Bezirk, Pouthon-
gasse), die dem Konvent der „Barmherzigen Schwestern des
hl. Vinzenz von Paul" zugehört und im Jahre 1893 von dem
Wiener Architekten Ludwig Zatzka im neoromanischen Stil er-
richtet worden ist, befand sich bis zum Jahre 1904 an der rechts-
seitigen Querschiffwand ein nur wenig unterlebensgroßer, holz-
geschnitzter Kruzifixus, der später nach einer Erweiterung von
Querschiff und Presbyterium an der Wand des linken Seiten-
schiffes seine Aufstellung gefunden hatte. Hier in dem Dämmer-
licht dieser Wandfläche genoß das Bildwerk beim Scheine von
Wandlaternen und gespendeten Kerzen die Verehrung der an-
dächtigen Gläubigen. Eine Beachtung als Kunstwerk aber hat
es in dieser Zeit niemals gefunden.
Der letzte Weltkrieg brachte auch der Pfarrkirche von St. Anton
eine Reihe schwerer Baugebrechen. Umgeben von Gefahren der
Vernichtung, ist damals das Bild des Gekreuzigten doch völlig
unbeschädigt geblieben. Die von Bombeneinwirkungen verur-
sachten baulichen Schäden aber verlangten eine gründliche Wie-
derinstandsetzung und Renovierung der Kirche, die von 1949 an
durchgeführt werden konnte. Schon in der Zeit der ersten Siche-
rungsarbeiten an dieser Pfarrkirche war der Kruzifixus für den
an der Pfarre tätigen Missionspriester Pater Ernst Boyer ein
Gegenstand der Beschäftigung geworden. Seine dabei zum ersten-
mal unternommenen Nachforschungen über die Umstände, unter
denen das Bildwerk in den Besitz der Kirche gekommen war.
blieben ohne Ergebnis. Den gleichen Mißerfolg aber hatten auch
alle späteren Bemühungen, irgendwelche Hinweise über die Her-
kunft des Werkes aufzufinden. Irgendwann - vielleicht anläß-
lieh der Fertigstellung des neoromanischen Kirchenbaues im
letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts - und von irgendwem
wurde der Kruzifixus dem Schwesternkonvent geschenkt. Das ist
alles, was mündliche Überlieferung von der Provenienz des Kru-
zifixus auszusagen weiß.
Volle Dunkelheit muß aber auch ehedem über der Frage nach
der künstlerischen Herkunft des Werkes gelegen sein. Denn
andernfalls wäre es schwer verständlich, wenn sich von einem
Wissen des Stifters um die wahre Wesenheit und Bedeutung des
Schenkungsobjektes nicht einmal eine mündliche Überlieferung
erhalten hätte. Und noch unwahrscheinlicher müßte es erschei-
nen, wenn bei einer Kenntnis vom Werte der Schenkung keine
schriftlichen Vermerke gemacht worden wären. Dem Vorschlag
Pater Boyers und dem Wunsche des Leiters der Pfarrkanzlei,
Pater Alois Mawal, ist es zu danken, daß der Kruzifixus in die
Akademie der bildenden Künste zu einer fachmännischen Be-
urteilung und Untersuchung gebracht werden konnte. Pater
Boyer gebührt dabei das Verdienst, die spätgotische Stilform des
Werkes erkannt zu haben. Von ihm aber wurde auch schon bei
der Einbringung desselben in das Akademie-Institut für Konser-
vierung und Technologie zum erstenmal die Vermutung ge-
äußert, daß es sich hier vielleicht sogar um ein Werk Tilman
Riemenschneiders handeln könnte.
Diese Erwartung Pater Boyers, der auch sonst über sehr beacht-
liche kunsthistorische Kenntnisse verfügt, sollte in vollem Um-
fang ihre Bestätigung finden. Pater Boyers Ahnungen von der
wahren Wesenheit dieses Schnitzwerkes hatten sich von allem
Anfang an nur auf einen Zustand der Plastik stützen können,
der den Charakter von weitgehenden und arg entstellenden Über-
arbeitungen an sich getragen hat. Der Kruzifixus war, nach der
Form der Überarbeitungen zu schließen, wohl am Ende des vori-
gen Jahrhunderts im Stile neogotiseher Fassungen mit dicken
Lagen einer Neugrundierung und darüberliegenden Ölfarben-