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Volltext: Alte und Moderne Kunst II (1957 / Heft 3)

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erschien. In der Stunde, die wir bei ihm verbrachten, plauderte 
Kubin fast ununterbrochen; er erzählte Anekdoten und Geschich- 
ten, erwähnte Bücher und Menschen - geistvoll, geschliffen und 
witzig. Wir Dreißigjährigen konnten ihm kaum folgen. 
Ziemlich spät erst fiel uns auf, daß der große, alte Mann ge- 
wisse Daten der jüngeren Geschichte gründlich durcheinander- 
mischte. Er sprach vom gegenwärtigen Regime in der Tschecho- 
slowakei und fügte hinzu, daß er einen Brief an den Präsidenten 
Masaryk schreiben wolle - der wäre immer sein Freund ge- 
wesen und würde ihm schon eine Einreiseerlaubnis verschaffen. 
Später erwähnte er den Einmarsch der Russen in Oberösterreich, 
wobei sich allerdings herausstellte, daß er ihn mit irgendwelchen 
kommunistischen Putschversuchen anno 1919 verwechselte. Und 
so weiter. 
Und dennoch, man mag sagen, was man will: ich bin bereit, 
wider jede Evidenz, zu schwören, daß diese Unsicherheit des 
Zeitgefühls nichts mit Senilität im Sinne der medizinischen Defi- 
nition zu tun hatte. Nein, sie erschien uns vielmehr ganz natür- 
lich, ganz selbstverständlich: welch ein Interesse kann ein Künst- 
ler wie Kubin und ein Mensch in diesem Alter noch an zeitlicher 
Genauigkeit haben? Ein Kubin, der achtzig Jahre alt ist, braucht 
sich nicht mehr an Daten erinnern. denn der erste Krieg war so 
gut eine Katastrophe wie der zweite, und Katastrophen haben in 
ihren Folgen untereinander fatale Ähnlichkeit; wenn man ein 
Kubin und achtzig Jahre alt ist, hört das Besondere auf, inter- 
essant zu sein. Wichtig bleibt nur mehr das Typische. 
Damals begriffen wir, was Kubin ist: ein Zeitloser, an dem 
links und rechts die Zeit vorüberläuft, Neues an- und nach einer 
Weile wieder wegschwemmt, ein Findlingsblock, um den es 
Frühling und abermals Winter wird, um den herum Wälder 
entstehen und vermodern, während er immer gleich jung oder 
alt bleibt, unveränderlich im ewig Vcränderlichen . . . 
Vielleicht erklärt sich aus solchen freilich weit mehr feuillet0- 
nistischen als kunstkritischen Erwägungen heraus auch etwas 
von der fast beispiellosen Wirkung, die Kubins Blätter seit eh 
und je auf ihre zahllosen Liebhaber ausüben. Sie sind weiß Gott 
unheimlich genug, und doch fühlt man sich in ihnen sofort 
heimisch, denn sie schildern die Schrecken der Zeit vom Blick- 
Abb. 1. „MärchenspieF. Federzeichnung von Alf-md Kubin aus 
dem Jahr 1948. 
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Abb. 2, „Der Schüdderump". 
Federzeichnung von Alfred 
Kubin.
	        
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