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erschien. In der Stunde, die wir bei ihm verbrachten, plauderte
Kubin fast ununterbrochen; er erzählte Anekdoten und Geschich-
ten, erwähnte Bücher und Menschen - geistvoll, geschliffen und
witzig. Wir Dreißigjährigen konnten ihm kaum folgen.
Ziemlich spät erst fiel uns auf, daß der große, alte Mann ge-
wisse Daten der jüngeren Geschichte gründlich durcheinander-
mischte. Er sprach vom gegenwärtigen Regime in der Tschecho-
slowakei und fügte hinzu, daß er einen Brief an den Präsidenten
Masaryk schreiben wolle - der wäre immer sein Freund ge-
wesen und würde ihm schon eine Einreiseerlaubnis verschaffen.
Später erwähnte er den Einmarsch der Russen in Oberösterreich,
wobei sich allerdings herausstellte, daß er ihn mit irgendwelchen
kommunistischen Putschversuchen anno 1919 verwechselte. Und
so weiter.
Und dennoch, man mag sagen, was man will: ich bin bereit,
wider jede Evidenz, zu schwören, daß diese Unsicherheit des
Zeitgefühls nichts mit Senilität im Sinne der medizinischen Defi-
nition zu tun hatte. Nein, sie erschien uns vielmehr ganz natür-
lich, ganz selbstverständlich: welch ein Interesse kann ein Künst-
ler wie Kubin und ein Mensch in diesem Alter noch an zeitlicher
Genauigkeit haben? Ein Kubin, der achtzig Jahre alt ist, braucht
sich nicht mehr an Daten erinnern. denn der erste Krieg war so
gut eine Katastrophe wie der zweite, und Katastrophen haben in
ihren Folgen untereinander fatale Ähnlichkeit; wenn man ein
Kubin und achtzig Jahre alt ist, hört das Besondere auf, inter-
essant zu sein. Wichtig bleibt nur mehr das Typische.
Damals begriffen wir, was Kubin ist: ein Zeitloser, an dem
links und rechts die Zeit vorüberläuft, Neues an- und nach einer
Weile wieder wegschwemmt, ein Findlingsblock, um den es
Frühling und abermals Winter wird, um den herum Wälder
entstehen und vermodern, während er immer gleich jung oder
alt bleibt, unveränderlich im ewig Vcränderlichen . . .
Vielleicht erklärt sich aus solchen freilich weit mehr feuillet0-
nistischen als kunstkritischen Erwägungen heraus auch etwas
von der fast beispiellosen Wirkung, die Kubins Blätter seit eh
und je auf ihre zahllosen Liebhaber ausüben. Sie sind weiß Gott
unheimlich genug, und doch fühlt man sich in ihnen sofort
heimisch, denn sie schildern die Schrecken der Zeit vom Blick-
Abb. 1. „MärchenspieF. Federzeichnung von Alf-md Kubin aus
dem Jahr 1948.
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Abb. 2, „Der Schüdderump".
Federzeichnung von Alfred
Kubin.