die Wandbilder der vier Stockwerke als Variationen über ein
Grundthema deuten, dem jeweils ein neuer Sinn unterschoben
wird, wodurch dann auch die einander entsprechenden Kompo-
sitionselemente abgewandelt erscheinen. Stets flankieren zwei
polar aufeinander bezogene Gebilde ein ruhigeres Mitlelmotiv,
das jene - indem es ihre antithetische Spannung im Gleichge-
wicht hält - sowohl trennt, als auch verbindet. Im Erdgeschoß
wird dieses Verhältnis zunächst nur „an sich" vorgeführt: eine
differenzierte und aggressive Form links steht einer defensiv,
versammelten rechts gegenüber; zwischen beiden entwickelt
sich ein gleichsam architektonisches Motiv, dessen ruhigerer Auf-
bau im Kraftfeld solcher Gegens" zlichkeit einen Moment eben
erreichter und schon wieder gefährdeter Harmonie repräsentiert.
Im ersten Stock wird dann die gleiche Spannung vermensch-
licht und in geistige Bereiche transponiert. Vor einer Tempel-
front, deren mächtiger Säulenschritt die Szene abschließt, ge-
bietet eine hoheitsvolle Figur einer anderen, willenlos fluten-
den; dieser ist ein verströmender, jener ein tektonisch streng
gegliederter Lebensraum zugewiesen; die Gitterform rechts ver-
harrt indifferent in unfruchtbarem rationalem Ebenmaß: dem
Gefühlsbcreich auferlegt, doch seiner Bewältigung unfähig. Der
zweite Stock bringt eine neue Variante, in der dem Mittelmmiv
eine besondere, auch dreidimensional zu erlcbendc Expansions-
kraft eignet. Man ahnt hier pflanzliche Entwicklungen, wobei
das linke Gebilde in keimhafter Ruhe reift, während das rechte
kraftstrotzend ausbricht. Im obcrstcn Stockwerk schließlich wic-
dcr ein „Kampf"; der Angriff erfolgt diesmal von rechts, von wo
eine „'l'iiter"-Figt.ir (Jäger oder Raubtier) zum kraftvoll ruhen-
den Bukranion und zum doppelhiilsig witternden Kleintier hin-
überzichlt; in der Mitte aber die friedenstiftende Erscheinung,
die Sprung (oder Schuß) mit beschwörender Geste bannt und so
die ewige Spannung für einen Augenblick in Schwebe hält.
Wenn wir hier eine verhältnismäßig präzise Schilderung dessen
gaben, was sich zwischen den Einzelformen der vier Komposi-
tionen zu ereignen scheint, so taten wir das im Bewußtsein der
grundsätzlichen Subjektivität, die jeder Interpretation eines m0-
dernen Kunstwerkes eigen ist. Daß es in anderen Betrachtern
andere Assoziationen wachrufen mag, gehört ja wesentlich zu
seinem oben besprochenen „allgemeinen" Charakter, zu jener
thematischen Unschärfe, dank welcher es imstande ist, auf sehr
verschiedene Individuen einzuwirken. Eine willige und nicht
a priori ablehnende Annäherung vorausgesetzt, wird es in jedem
Betrachter höchst persön iche Vorstellungen erwecken und ge-
rade dadurch ein sehr innerliches Kunsterlebnis (das freilich
nicht mit einem „sentimentalen" verwechselt werden darf) mög-
lich machen.
Hier ist ein Punkt erreicht, an dem endlich eine Frage vorge-
bracht werden muß, die sich beim Leser vielleicht schon seit lan-
gem meldet: ob nämlich eine so „erwachsene" Kunst in einer
Schule ganz an ihrem Platze ist. Wir glauben, hier mit ja und
nein zugleich antworten zu müssen: so gewiß die Kinder an
Hexen und Prinzessinnen mehr Vergnügen hätten, für oder ge-
gen welche sie Partei ergreifen und denen allesamt sie Schnurr-
bärte malen könnten, so gewiß ist es auch, daß sie beim Anblick
dieser Konfigurationen keinen Schaden nehmen werden. Die
optisch minder sensitiven werden zum mindesten an weit vor-
nehmere Parbakkorde gewöhnt, als ihnen in Kindcrzeitungen
oder an Plakatwänden je ins Blickfeld kamen, die optisch be-
gabteren aber werden aus dem Deuten dieser Bilderrätsel mehr
lernen als in vielen Zeichenstunden.
ALTES
HEILIGTUM IN NEUEM GLANZ
BASILIKA VON MARIAZELL
ZUR 800- JAHRFEIER RENOVIERT
Von FELIX GAMILLSCHEG
800 Jahre Mariazell. Acht Jahrhunderte Wallfahrten zu der Ma-
donna aus Lindenhnlz, die der legendäre Mönch Magnus zu den
Holzfällern der stcirisehen Alpen brachte. Seit am 1. Mai dieses
Jahres Kardinal Wendel aus München kam, um die Feierlich-
keiten zu eröffnen, ist die Reihe der Veranstaltungen, der Strom
der Pilger nicht mehr abgerissen. Sonntag für Sonntag, Feiertag
für Feiertag, aber auch unter der Woche kommen sie, hunderte,
tausende, zehntausende, die meisten aus Österreich, aber auch
aus Deutschland, aus Italien, aus Frankreich, vor allem aber die
Flüchtlinge aus Llngarn, Böhmen, der Karpato-Ukraine, einzeln
oder in Gruppen, zur Magna Maler Austriae, die zugleich auch
die Schutzpatronin der Ungarn und der slawischen Völker ist.
Wer die Basilika von früher her in Erinnerung hat, wird sie kaum
wiedererkennen. Schwere Bausehäden mußten beseitigt wer-
den - und man folgte mit der Gesamtrestaurierung einer
alten Tradition, denn schon in den vergangenen jahrhun-
derten war die Basilika anläßlieh großer Festjahre durchgreilend
renoviert worden.
Der heutige, drcitürmige Bau wurde von Domenieo Seiassia er-
richtet, einem Meister aus Graubünden, der von 1644 bis 1673
an ihm baute. Von seinen Vorgängern ist noch das romanische
Portal der ersten Kirche erhalten, die Heinrich von Mähren um
1200 an der Stelle der Marienzelle des Mönehes errichtete, wäh-
rend das gotische Langhaus mit der Vorhalle und dem Westpor-
utl Reste der dreischilfigen Hallcnkirehe sind, die König Ludwig
von Ungarn gegen Ende des 14. Jahrhunderts als Dank für seinen
Sieg gegen die Türken hauen ließ.
Der Gnadenaltar mit seiner reichen barocken Verzierung schließt
das gotische Langschifl ab. Die acht schlanken Pfeiler. die das
Rippengewölbe tragen, sind beim barocken Ausbau ummantelt,
die Gewölhelelder zwischen den Rippen mit Stukkatur ausge-
stattet worden. Im Raum hinter der Orgelempore wurden im
Zug der Restaurierung die gotischen, bunt bemalten Rippen frei-
gelegt, so daß sich hier auch der Laie ein Bild der gotischen
Architektur machen kann. Vor allem aber erinnert das West-
portal mit seinen Tympanonreliefs an den Bau Ludwigs von Un-
garn. Damals dürfte der gotische Mittelturm wohl einen durch-
brochencn, steinernen Helm getragen haben, wie ihn die Kirche
Maria am Gestade in Wien heute noch besitzt. Aber als 1827
die Kirche niederbrannte, wurde er schwer beschädigt und nur
unzulänglich erneuert.
Als 1704 der Baroekbnu geweiht wurde. da war nicht nur das
Langhaus durch den Anbau der Seitenkapcllen vergrößert wor-
den. Sciassia halte die Kirche fast um das Doppelte verlängert,
27