Abb. 1.
Hzlbermann, Rocaillc. 60er Jahre, 18._Ih.
MUSCI-IELSUCHT
DIE „KRANKHEFV
DES ROKOKO
Von HERMANN BAUER
In seinen „Confessions" schreibt Rnusseau im achten Buch von
dem reichen juwelier Mussard: „Indem er die Terrassen seines
Gartens umwühlte, fand er fossile Muscheln, und Zwar in so
großer Anzahl, daß seine erhitzte Einbildungskraft nur noch
Muscheln in der Natur erblickte, und daß er endlich ganz
aufrichtig glaubte, das ganze Weltall sei nur Muscheln, Trüm-
mer von Muscheln, und daß mit einem Wort die Erde nur noch
Muschelstoff sei . . ."
„Konchyliomaniü nannte Rousseau die „Krankheit", „Muschel-
sueht", die seit den dreißiger Jahren des achtzehnten jahrhun-
derts nicht nur den verspotteten Mussard ergriffen hat, sondern
auch das ganze ornamentale Schaffen des Rokoko erfaßtc -
ornamental aber war beinahe die gesamte Kunst.
Muschelwerk, Rocaille, liegt nicht nur als gleichsam Ur-Bau-
stein einem großen Teil der Kunst des Rokoko zugrunde; und
in ihm manifestiert sich eine Vorstellung von Natur, die letzt-
lich nicht einmal so entfernt ist von der Mussards. Boucher bei-
spielsweise hatte eine berühmte Sammlung exotischer Muscheln,
und tatsächlich findet sich bei ihm die Muschel als Bildmotiv
nicht nur immer wieder - was bei der Affinität des Rokoko zum
Wasser, zu den Bereichen des Wassers und der Brunnen nicht
verwunderlich ist - seine ganze Bildstruktur ist beherrscht von
einem nicht näher bestimmbaren „Muschcligen" - eben der
Rocaille. Dabei ist dieses „Muschelige", Rocaillehaftc identisch
mit dem Natürlichen dieser Bilder, eine Feststellung, mit der wir
eines der scheinbaren Paradoxe der Epoche berühren: daß näm-
lich im Rokoko die Kategorien von Ornamental und Natürlich
sich wechselhaft durchdringen. Das Ornament, die gegenstands-
fernstc aller Kunstformcn (zumindest was gewisse Perioden des
Barocks betrifft), wählt sich eine Naturform, die Muschel,
die aber gerade ihrer Form wegen bereits ornamental genannt
werden darf.
Dabei ist es bezeichnend, daß die Roeaille nicht dadurch ent-
steht, daß man etwa die gegebene Form der Muschel ornamcntal
variiert und verwendet - im Gegenteil, in einem genetisch sehr
komplizierten Prozcß entwickelt sich seit etwa 1700 in Frank-
reich aus dem Ornament-Arsenal der Regence-Kunst, aus Pal-
mctten, Akanthus, Lambrcquin und Bandwerk jene muschelige
Form der Rocaille. Dies geschieht vor allem bei jenen lVlClSICfh
des phantastisch-freien Ornamcntstiches, die in Frankreich im-
mer etwas abseits der großen Kunstentwicklung stehen bleiben
werden, um aber dann in Deutschland um so mehr zu wirken:
J. A. Meissonnier, La joue, Mondon, Babel und Francois de Cu-
villies. Bei diesen entstehen Serien von Stichen, die nicht nur
entscheidend werden für das deutsche Rokokoornament, son-
dern die auch in extremer Weise Phänomene sichtbar machen,
die bezeichnend sind für dic große Kunst des Rokoko.
Das Titelblatt aus dem „Livrc d'Ornements" von Meissonnier,
1734, zeigt bereits das ganze Vokabular des „style rocaille":
Muschelrand auf C-Bogen und eine Muschel, die akanthusartig
ausflammt; wobei die Muschel wiederum eine Summe von anein-
andcrgelegten C-Bogen zu sein scheint - von jenem C-Bogen,
den man, um den Lcibnizschen Terminus zu gebrauchen, die
„Monade" des Rokokoornaments nennen könnte. Dabei zeigt
sich an dem Blatt Meissonniers auch, wie sehr hier noch
das italienische Barock, das ja bereits Muschelrand-Kartuschen
kannte, nachwirkt.
Neu aber ist, daß hier diese C-Bogen mit Muschel, dieses Band-
wcrk links und rechts davon, zu einer Art von phantastischer
Architektur geworden sind. Es ist, als stünde diese Kartusche
mit ihren Ornamentbögen wie gemauert und real gebaut in einem
Garten. Das Ornament ist also hier nicht mehr Ornament sui
generis, sondern zugleich ein B i l d g c ge n s ta n d geworden.
Um die Bedeutung dieses Vorganges zu würdigen, muß man sich
vor Augen halten, daß Ornament an sich ja bisher und normaler-
weise nicht „dargestelltm, „abgebildef wird, sondern an sich ge-
geben ist, ohne den Vcrmittlungsvorgang der Darstellung.