C. G. JUNG ÜBER DAS UNBEWUSSTE IN DER MODERNEN KUNST
Soeben ist im Rascher-Verlag. Zürich und Stuttgart, unter
dem Titel „Ein moderner Mythos" eine Untersuchung des
bedeutenden Schweizer Psychologen erschienen, die die psy-
chologische Ursache und Reaktion der „fliegenden Unter-
tassen" zum Thema hat. Wir bringen uns dieser ungemein
interessanten Arbeit statt einer Besprechung zwei Stellen zum
Abdruck, in denen sich C. G. ]ung mit der modernen Kunst
im allgemeinen auseinandersetzt.
Schon längst hat die Malerei, ihrem Gesetz, die stärstcn Motive der
jeweiligen Epoche in sichtbare Erscheinung zu wandeln, folgend, die
Zerstörung der Formen und das „Zerbrechen der Tafeln" zu ihrem
Gegenstand gemacht und Gebilde geschaffen, die gleichermaßen von
Sinn und Gefühl abstrahieren und sich ebensoschr durch „Sinnlosig-
keit", wie durch bewußte Bczichungslosigkcit zum Betrachter auszeich-
nen. Sie hat sich damit dem Geist der Zersetzung sozusagen völlig
ausgeliefert und einen neuen Schönheitsbegriff geschaffen, welcher in
der Entfremdung von Sinn und Gefühl sein Genügen findet. Alles besteht
aus Scherben, unorganischen Bruchstücken, Löchern, Verzerrungen, Ge-
wirren, Durchkreuzungen, Infantilismcn und Plumphciten, welche selbst
primitive Ungeschickthciten unterbieten und den herkömmlichen Satz,
„Kunst kommt von Können" Lügen strafen. Wie die Mode jede auch
noch so absurde und widerwärtige Neuerung „schön" findet, so auch die
„moderne Kunst" dieser Art. Es ist die „Schönhcit" des Chaos. Das ist,
was diese Kunst vorauskündet und anpreist: der prangendc Seher-
benhaufen unserer Kultur. Man kann sich zugeben, daß ein solches
Unterfangen angslerregend ist, besonders noch, wcnn es sich mit den po-
litischen Möglichkeiten unserer zukunftsschwangcren Zeit paart. Man
kann sich in der Tat vorstellen, dall es in unserer Epoche der „großen
Ruiniercr" eine besondere Genugtuung bedeutet, wenigstens der Besen
zu sein, der das Gewesene in die Ecke wischt. -
Die Brüskierung des Interesses durch Unverständlichkeit hat eine Intr0-
Version desselben und eine dadurch bedingte Konstellation des Unbe-
wußten zur Folge. Dcnselben Effekt hat auch die in Frage kommende
moderne Kunst. Man kann ihr daher eine bewuflte oder unbcwufltc Ab-
sicht zuschreiben, beim Betrachtcr cinc asketische, der verständlichen
und erfreulichen „Welt" abgewandte Blickrichtung zu bewirken und da-
für, gleichsam als Ersatz für eine verlorene. menschlich erfaßbarc Um-
welt, - cinc Offenbarung des Unbewufltcn zu erzwingen. Der prakti-
schen Verwendung des Assoziationscxperimentes und des Rorschachte-
stcs liegt diese Absicht zugrunde: sie sollen über die Beschaffenheit der
Bewußtseinshintergründe Auskunft geben. Diese Aufgabe erfüllen sie
auch mit großem Erfolg. Die „Expcrimentanordnungf der modernen
Kunst ist offensichtlich dieselbe; sie stellt dem Betrachter die Frage:
„Wie reagierst du? Wie denkst du? Was für eine Phantasie drängt sich
dir auf?" D. h. mit anderen Worten: die moderne Kunst hat nur noch
scheinbar das von ihr produzierte Bild im Auge, in Wirklichkeit aber
meint sie das betrachtende Subjekt und dessen unwillkürliche Reaktion.
Wenn man bei genauem Hinsehen farbige Töne in einem Bildrahmen
sieht, so springt das Interesse an und entdeckt nun ein Gebilde, das allen
menschlichen Verständnisses spottet. Man empfindet Enttäuschung und
ist schon zurückgeworfen auf eine subjektive Reaktion, die sich in aller-
lei Exklamationen Luft macht. Wer solche zu lesen versteht, kann vie-
lerlei über die subjektive Disposition des Betrachters lernen, wenig oder
gar nichts aber über das Gemälde als solches. Letzteres bedeutet ihm
nicht mehr als ein psychologischer Test. Das mag entwertcnd klingen,
aber nur für den, dem der „subjektive Faktor", als die wirkliche Be-
schaffenheit der Seele, ein Gefühl des Unbchagens bereitet. Verbindet
ihn aber ein Interesse mit seiner Seele, so wird er sich letzterer zuwen-
den und versuchen, scinc wachgcrufenen Komplexe einer näheren Prü-
fung zu unterziehen.
Da nun aber auch die kühnste Phantasie des schaffenden Künstlers -
mag sie den Rahmen der Verständlichkeit noch so weit überschreiten
- an die Grenzen der psychischen Möglichkeit gebunden ist, so können
in seinem Gemälde gewisse ihm unbekannte Formen auftreten, welche
Begrenzungen und Bestimmtheiten anzeigen... Bei dem Versuche, die
Welt der anschaulichen und begreiflichen Dinge zu verbissen und sich
in der Schrankenlosigkeit des Chaos zu bewegen, ruft die darstellende
Kunst noch in ganz anderem Maße als die psychologischen Tests „Kom-
plexe" herauf, die aber ihren gewohnten persönlichen Aspekt abgestreift
haben und daher als das erscheinen, was sie ursprünglich waren, näm-
lich Urformen der Instinkte. Sie sind übcrpersönlicher, d. h. kollektiv-
unbewuflter Natur. Persönliche Komplexe entstehen dort, wo Kollisio-
nen mi: der instinktiven Vcrttnlagung stattfinden. Diese sind die Punkte
verminderter Anpassung, deren Empfindlichkeit Affekte auslöst, und
es sind die Affekte, welche dem zivilisierten Menschen die Maske der
Angepaßtheit vom Gesicht nehmen. Es scheint dies das Ziel zu sein, auf
das unsere moderne Kunst indirekt hinarbeitet. Wohl scheint heute noch
auf diesem Gebiete äußerste Willkür und unabschburcs Chaos vorzu-
herrschen. Aber der dadurch bedingte Verlust an Schönheit und Sinn
wird wettgemacht durch eine Verstärkung des Unbewuflten. Da dieses
nicht etwa chaotisch, sondern in der Naturordnung ist, so ist zu cr-
wartcn, daß mit der Zcit Gestaltungen, die diese Ordnung anzeigen,
entstehen werden.
AUF AUSSTELLUNGEN NOTIERT
WIEN
ALBERTINA:
Von ERNST KOI.
LER
Die Frühjahrsausstcllung der Albertina, diesmal der Kunst Andre Mas-
sons geweiht, Iäßt im Vergleich zur vorhergegangenen Expressionisten-
schau an das Schwingen eines Pendels denken: Bot die Darbietung des
Werkes deutscher Ausdruekskünstler einen gleichsam massiven und un-
überhörbar lauten Angriff auf die Reaktionsfähigkeit unseres Gemütes,
war ihr ein bedeutender Publikumserfolg von allem Anfang an sicher
(15301 Besucher, 3.500 verkaufte Katalogel), so ist Massons Kunst
leise, dezent, diskret, nicht auf „Volk", sondern auf Kennerschaft abge-
stimmt und es ist anzunehmen, daß ihre Resonanz in der Öffentlichkeit
nicht sehr groß sein wird; es dürfte sich hier, um ein Wort des Direk-
tors der Albcrtina aufzugreifen, um eine Veranstaltung eher „esoteri-
schen" Charakters handeln.
Trotzdem kann Wien froh sein, mit dem Werk einer so eigenartigen
Künstlerpersönlichkeit in engere Berührung zu kommen. Um Massen
mit wenigen Worten zu charakterisieren: Es ist ein Fluidum ewiger,
flüchtigster Wandlung um ihn, etwas Ungreifbares, Feinstrukturelles,
Astralleibhaftes; nicht umsonst steht das Thema der Wandlung und
Verwandlung, die Idee der Metamorphose immer wieder in der Mitte
seines Schaffens. Denken wir nur an das großartige Blatt „Sisyphus"
von 1946: Mann wird zu Fels, Fels wird zu Mann - aber es ist keine
Wandlung und kein Weg von Star! zu Ziel, eher möchte man angesichts
dieser Metamorphosen an das Glitzern eines Brillanten mit unzähligen
Facetten denken . . .
Massor. ist nach den Ausführungen von Direktor Dr. Otto Beneseh einer
der Proto-Surrealisten; 1896 geboren, gerät der unter kubistischen
Aspekten heranreilende Künstler bald in den Bann der „klassischen"
Surrealisten Max Ernst, Ives Tanguy und Salvador Dali. Auch seine
Kunst will psychogrammatisch sein, Reflexe des Unbewußten wieder-
geben, „der unbewußten Niederschrift des Nachcrlchens vitaler Vor-
gänge" (Benesch) dienen. Tod, Zerstörung, Kataklysmen aller Art
bewegen auch den frühen Masson - aber wie ganz. ganz anders ist
doch das, was sein mcisterlicher Grabstiehel schailt! Masson verhält
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