romantische Vision zu verdichten und gelangt zur Realität der
Vorstellung.
Zur gleichen Zeit schuf Otto (iutfreund NVerkc, die im engsten
Zusammenhang mit dieser Entwicklung stehen und die in sti-
listischer Hinsicht einzig mit den frühen bildhauerischen Ver-
suchen Picassos verglichen werden können. Die grundlegende
Tendenz seiner Bemühungen definierte Gutfreund folgender-
maßen.
.,Einc Plastik ist nicht räumlich übertragene. stehengebliebenc
Zeit, sondern der Ausdruck fortdauernden Werdens, unzerreiß-
barer Bewegung, deren Rhythmus derselbe ist, wie der des
schöpferischen Denkens. Kein steingewordenes Fragment der
Zeit, aber eine unzerreifibttre Wellenbetvegung, die Ufer des um-
grenzenden Raumes mit sieh reißend . . ."
Die schöpferische Analyse, die sich so intensiv mit der negativen
und positiven Kontrapunktion der liormen auseinandersetzt,
wie wir sie z. B. bei dem „Frauenkoplm von Picasso aus dem
Jahre 1910 finden, findet bei Gutfreund eine andere Verwen-
dung. Im Jahre 1911 bereits entsteht die monumentale Plastik
„Angst", eine Kristallisierung der inneren Vision, die Materiali-
sierung eines psychischen Vorganges. Ein Werk von gänzlich
origineller Form, ohne Parallele im damaligen Europa. Be-
wunderswert sind in dieser ' it Cutfreunds Erfindungsreichtum
und Mannigfaltigkeit seiner künstlei" eben Lösungen. Zur glei-
chen Zeit, wie „Angst", entstehen Plastiken, darunter nl-Iamlet"
oder „Kopf des Don Quiehotte". in denen das Prinzip der schöp-
ferischen Analyse abgewandelt, gemildert wird. Es entstehen
bewegliche, hochexpressive Formen, voll innerer Dynamik, die
in mancher Hinsicht an Daumiers „Ratapoil" erinnern. Dieser
Zug Gutfreunds wurzelt in der 'l'radition des böhmischen Ba-
rocks, das im Werk des Nlatyaslärtttm einen derHöhepunktc der
expressiven, dynamischen Plastik in lluropa darstellt. Der Geist
des Barocks, welcher sich noch heute in den Portalen derPrager
Paläste, in der erregenden Architektur der Kirchen, in der dra-
matischen Gestik der Figuren der Karlsbrücke manifestiert, ent-
steht aufs neue in neuer liorm bei Gutfreund. In seiner konstan-
ten Bewegung erinnert zwar manches an Boccioni, ist aber im
Wesen ganz anderer Art, kein romanisehes liurioso, sondern
mitteleuropäische Romantik, um durehgcistigten Ausdruck be-
müht, um die Mitteilung menschlicher Zwisehentöne.
Gutfreund selbst hat in einigen seiner Gedanken die Plastik als
das Entfalten einer Vorstellung von der Bewegung charakteri-
siert. Dieses Problem wird auf besonders prägnante Weise in der
Plastik „Der Cellist" aus dem Jahre 1912 gelöst. Hier treten die
expressiven Gestaltungsmittel bereits vor den neuen Problemen
des formellen Aufbaues zurück. Und dies um zwei Jahre früher,
als das berühmte „Pferd" Duchamp-Villons und auf gänzlich an-
derer Basis als Boccionis Plastiken aus der gleichen Zeit.
Gutfrcund: weiteres Experimentieren in dieser Richtung wird
durch ungünstige Lebensverhältnisse unterbrochen. Erst nach
dem Ersten Weltkrieg gelangt er wieder zur systematischen
Bohumtl Kubista, Der hl. Sebastian. Öl 1912.
Arbeit Zu dieser Zeit befaßt er sich bereits mit anderen Prob-
lemen. Lir sucht nach neuen Ausdrucksmitteln der reinen liorm.
Er vereinfacht die Materie zu großen Blockgebilden, so wie es
bei den gleichzeitigen Verstichen von Lipehitz oder Laurens der
Fall ist. Gutfreunds kubistische Plastik bleibt jedoch einer der
bedeutendsten läeitriige dieses Raumes zur Kunst des 20. Jahr-
hunderts. -
BIOGRAPHXSCHES
Otto Gutfreund wurde am 3. August 1889 in Königinhof in Böhmen
geboren. Er studierte 1906-1909 nn der Prager Kunstgewerbeschule,
1909-1910 bei Bourdell in Paris. 1910 kehrte er über England, Bel-
gien und Holland in seine Heimat zurück. Die Enlslehungszcil seiner
klllllSllisCllßh Plastiken fällt in die Jahre 1911 bis 1913. 1914 fährt er
nach Paris, wo seine künstlerische Arbeit durch den Ersten Weltkrieg
unterbrochen wird. Nach dem Krieg kehrt er nach Prag zurück und
ändert seine schöpferische Arbeitsweise Er verläßt das kubistische Prine
zip und wendet sich der vollen pl "sehen Form, ausgehend von der
optischen Realität, zu, In diesem St n dem sich immer wieder kubi-
stische Reminiszenzen manifestieren, schafft er eine Reihe starker und
origineller Werke. Er stirbt auf tragische Weise im Jahre 1927, im
Alter von 37 Jahren.
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