PICASSO IN DEN JAHREN
DIE SANIMLLING DR. VINCENC KRAMAR IN PRAG
1907-1913
Von MIROSLAV
.AMAC
„Um ein modernes Kunstwerk verslchcn und seinen künst-
lerischen Wert ermessen zu können, dazu ist nicht nur
eine hisiorische Bildung notwendig, dazu muß auch die
Umwälzung der künstlerischen Maßstäbe, die wir erlebt
haben, in ihrem ganzen Ausmaß erkannt worden sein."
Diese Worte schrieb der Kunsthistoriker Dr. Vineene Kramaf im
Jahre 1922 in seiner Studie „Neue Kunst und Kritik". Als das
Neue erschien ihm damals die avantgardistische Bewegung und
ihre Entwicklung zu Beginn des Jahrhunderts. Sie ist heute
bereits abgeschlossen und wird kunstgcschichtlich erforscht.
Ohne ihre Kenntnis wäre aber ein Verstehen der bildenden Kunst
der Gegenwart unmöglich. Das Verständnis für das in der bilden-
den Kunst neu Erkämpfte half Kramar die Kunst der Vergan-
genheit neu zu entdecken. Er schuf eine bedeutende Kunstsamm-
lung, mit der sieh dieser Artikel befassen soll.
Den Haupthestandteil der Sammlung Kramai bilden mehr als
zwanzig Picassos, sowie Arbeiten von Braque und Derain aus den
Jahren 1907-1913. Diese Bilder wurden kurz nach ihrem Ent-
stehen erworben, die Sammlung bestand bereits vor dem Ersten
Weltkrieg in ihrem heutigen Umfang und wurde später nicht
erweitert. Ihre Auswahl ermöglicht es, die Entwicklung einer
der großen erneuernden Bewegungen der Kunst im zwanzigsten
Jahrhundert, während eines kurzen Zeitabsehnitts, mit seltener
Genauigkeit zu verfolgen. Die Sammlung Kramai- umfaßt neben
den genannten Werken auch Bilder tschechischer Maler vom
Beginn des Jahrhunderts bis zur Gegenwart, ohne daß einer
bestimmten Richtung oder einem bestimmten Zeitabschnitt der
Vorzug gegeben wurde.
Die frühesten Werke Picassos aus der Sammlung Kramai ent-
standen im Jahre 1907. Eine besonders bemerkenswerte Arbeit
aus dieser Zeit ist ein Selbstporträt. Scheinbar fauvistisch in
seinem Bildaufbau, hat es in Spannung und Ausdruck mit dem
liauvismus nichts gemein. 1m Gegensatz zu ihm steht die Far-
bigkeit - die Palette beschränkt sich hauptsächlich auf die
Töne grau, braun und ocker - und vor allem aber die Zeich-
nung. In ihr verbirgt sich Leidenschaft und Tragik der spani-
schen Malerei, mit der das Werk Picassos in tiefgreifendem
Zusammenhang steht. In diesem Bild wird bereits der Bruch
mit der überlieferten Form angedeutet und der erste Schritt
zum Kubismus vollzogen.
Im Jahre 1908 wurde Picasso durch das Werk Cözannes entschei-
dend beeinflußt, was in den Bildern der Sammlung deutlich
erkennbar ist. Aus der Auseinandersetzung mit der Cezannes'
schen Bildauffassung entstand auch das Stilleben „Kästchen,
Tasse, Äpfel und Trinkglas" aus dem Jahre 1909. Die ganze
Aufmerksamkeit des Künstlers gilt hier dem Raum-Form-Pro-
blem. Der Raum ist ein aufgeklappter Kubus, in welchem sich
die von oben gesehenen Objekte stellenweise mit den Flächen
verbinden. Im Grunde geht Picasso hier von der klassischen
französischen Tradition aus, die in Cezannes gipfelt und die er
gleichzeitig mit jener inneren Dramatik verbindet, die für die
spanische Kunst charakteristisch ist.
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In den Jahren 1910-1912 entsteht der analytische Kubismus.
Der „Hafen von Cadaqucs" (1910) steht am Anfang dieser Pe-
riode. Die äußere Realität wird in einem Rhythmus von Linien
und Flächen aufgelöst. Es gibt wenige Bilder, die so deutlich
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