DIALOG MIT DER ZEIT
[I'M WERK DES BILDHAUIiRS WANDLR BLRTONI
Von jOHANN MUSCHIK
Der Oeuvrekatalog des noch nicht Hjährigen Bildhauers Wunder
Bertoni hält nunmehr bei Nummer 129. Die ersten plastischen
Versuche hat der Austro-Italiener im Jahre 1945 gemacht. Ber-
toni wurde als Kind kleiner Leute in Codisotto in der Provinz
Emilia geboren. 1943 deportierten die Nazi ihn als IMI (auslän-
dischen Arbeiters) nach Wien. Hier fand er Anschluß an den
Kreis um den Bildhauer Heinz Leinlellncr. Menschen wurden auf
solche Weise seine Freunde, welche dcr Kunst des Dritten Rei-
ches (und nicht nur dessen Kunst) ablehnend gegenüberstandcn.
Bertoni wurde zusammen mit anderen Fremdarbeitern von Be-
wachungsmannschalten damals zwischen der Fabrik und dem
Lager hin- und hereskortiert. Nur einmal in der Woche konnte
er sich irei in der Stadt bewegen. Ein junger italienischer Kunst-
student, den er im Gasthaus kcnnenlernte, stellte die Verbindung
zu dem Atelier im Prater her, das Leinlellner gehörte. Das un-
gewohnte Milieu erweckte Bertonis Interesse, und bald versuchte
er sich selber in der Bildhauerkunst. Nach Kriegsende wurde er
Schüler Wotrubas, blieb es bis 1949.
Opus 1, die „Wasserträgerin" (1945), gemahnt an balkanische
und südländische Volkskunst. Eine gewisse Großzügigkeit der
Form und schwungvolle Vereinfachung lassen den künftigen
Bertoni erahnen. Freundlich berührt die Frische der Figur; ihre
Wander Berloni. "COHCCFIO".
Holz, 1950.
Mensehlichkcit, ihr Charme bezaubern. In der „Kämmenden"
von 1946 ist die weit ausholendc Armbewegung um den Kopf der
Frau das Thema, und es erstaunt immer wieder, mit welchem
sicheren Gefühl dieser Anfänger jene starke Gebärde mit dem
Volumen und der Kontur des Körpers sonst zu einer ruhigen, in
sich federnden Harmonie zusammenschließt.
Bertoni ist in seiner Welt daheim. Er fürchtet nicht, durch Hin-
neigung zum Thema und zur physischen Schönheit, „Verrat an
der Form", an der „künstlerischen Materie" zu begehen. Form
wird nie „autonom" bei ihm. Immer haust Seele in ihr, und das
Thematische wird gereinigt durch eine sehr starke Empfindung
für Form. Das „FamilienWThema zum Beispiel, das Thema der
„Licbenden" und das Thema von „Mutter und Kind" hat Ber-
toni in einer Reihe von Werken auf einer Skala durchgespielt
(1948fi959), die von rührender, leiser, beinahe linkischer und da-
bei dennoch sehr „1eordneter" Anmut bis zu allergrößter For-
menstrengc reicht. Humanitas und der Hauch einer patriarchali-
schen Welt fehlen nie. Durch ihre Kreatürlichkeit besticht die
feine „Liegendc" von 1947.
In jedes künstlerische Abenteuer ließ Bertoni sich ein. Das war
ja die Situation der jungen Wiener Künstler überhaupt _ daß
sie, was moderne Kunst auf ihren großen Fahrten seit Beginn
des Jahrhunderts entdeckt und entwickelt hatte, nun erst, nach
so vielen Jahren Krieg und Faschismus in sich aufnehmen, es
verarbeiten konnte. jeder fühlte: ohne dieses „Nachholen" war
ein Fortschreiten in die Zukunft als eigenständiger, zeitgenössi-
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