scher Künstler unmöglich, weil es sich ja um die Nutzbarma-
chung von liormcrfahrungen und inhaltlichen Erfahrungen aus
dem Jahrhundert handelte, die nicht verlorengehen durften.
Wende." Bertoni ist vielleicht der radikalste und allseitigste der
jungen bei solcher schöpferischen Anverwandlung gewesen.
Erste abstrakte und kubistisehe Versuche stellte er um 1948 an.
Ein futuristisch-dynamisches Element kam in die „BewcgungsW
Studien der Zeit um 1951. Eines ihrer Resultate war die Plastik
„Bewegung" (1958) vor der Stadthalle. „Bewegung ist ein Be-
griff, also etwas Abstraktes. Man kann ihn nicht einfach durch
einen springenden Hasen darstellen", meinte Bertoni einmal.
„Steine am Meer", eine Reihe von Kompositionen, um 1952 ent-
standen, schließt gewissermaßen an die ,.obje.ts trouves" der Sur-
realistcn an. Die abstrakte und futuristische Linie lief 1953 wei-
ter, wurde bis in die Gegenwart immer wieder aufgenommen.
Ein äußerst interessanter Versuch ist das „Imaginäre Alpha-
beth" (1954[S5), das Buchstabengebilde in abstrakte Gebilde ver-
wandelt, in die der Künstler etwas von der Wesenheit und dem
Klang der Buchstaben (die Tiefe des „u" zum Beispiel) und der
Welt, die hinter ihnen steht. einschreinte. In etlichen Beispielen
des „Imaginären Alphabets" stieß Bertoni ferner zu einer echt
polychromatischen, keineswegs nur angepinselten Bildhauerei
vor. Der Totem-Zyklus '(19S6[1958) mit den beschwörenden
„Händen" und den aggressiven „Anklägern", die „Sonnenan-
heter" von 1957 und die im selben Jahr entstandene „Ecclcsia"
(17 Variationen zum Madonncnthema) knüpfen an Vorzeitkunst,
an Moore und Zadkine und Gargallo an, „Vegetative Kompo-
sitionen (1958) in mancher Einzelheit an Arp.
Der Katalog der Ansatzpunkte ist umfassend. Doch offensichts
Wander Bertoni, „Das kleine u". Holz,
1955.
Wander Bertuni, „ll-uirus". Aluminium,
1953.
lieh geht das Schaffen Bertonis über cin bloßes Aufholen, Nachv
holen in der Kenntnis von Formenvokabular hinaus. Picassos
provozierendes Wort „Ich kann mich in vielen Sprachen aus-
drücken" scheint irgendwo auch das geheime Motto des Italie-
ners, der österreichischer Staatsbürger wurde, zu sein, und wie
bei Picasso schwingt sicherlich die Überzeugung mit, daß das
Inhaltliche und das Formale in hohem Maße kongruente (irößen
sind, daß sich also nicht alles mit dem gleichen Vokabular sagen
läßt und formale Vielfalt im Künstlerischen daher zu den Not-
wendigkeiten der unglaublich vielfältigen l tcnzwcisc, der
außerordentlichen Komplexheit dieser Epoche gehört.
Nun läßt sich natürlich einwenden: es muß sicher nicht immer
alles von allen gesagt werden. Daß in der „Vielsprachigkeittf
aber nicht allein Scharlatane, sondern auch ernst zu nehmende
Künstler leben können, bleibt nichtsdestoweniger bestehen.
„Ich führe in meinem Werk einen Dialog mit der Zeit",
meint Bertoni. „Die Formen sind verschieden, weil die Prob-
leme verschieden sind. Ich habe nicht das Temperament, mich in
eine einzige Form, in ein einziges Problem zu verheißen". Aus-
einandersetzung mit allgemein bewegenden Ereignissen ist spürs
bar, nicht allein mit Formalem. Das Beten und Fluchen, das Be-
schwören, Abklären, das Fröhliche und das Aggressive sind Rea
aktionen auf Weltbegebenheiten, freundliche und blutige, die
nicht allein den Künstler betrafen.
Bertoni fürchtet sich nicht vor dem Thema. Er hat auch keine
Angst davor, „literarisch" zu werden. Die Literatur ist sogar im