Es gibt in Niederösterreich ein gutes halbes Hundert Orte, in
denen sich nennenswerte Reste von gotischen Wandgemälden
erhalten haben. Dennoch ist es heute kaum möglich, zu einem
brauchbaren Urteil über den einstigen Umfang, über Bedeutung
und künstlerische Qualität dieses Kunstzweiges im niederöster-
reiehischen Donau- und Alpenvorland zu gelangen. Die Streu-
ung, in geographischer wie in künstlerischer Beziehung ist zu
beträchtlich, als daß sich - allerdings mit wenigen sehr gewich-
tigen Ausnahmen - der Denkmälerbestand heute schon so ord-
nen ließe wie anderswo. Das Ergebnis des vorläufigen Über-
blicks: daß auf dem Gebiet der Monumentalmalerei ein Gefälle
in der Richtung vom Süden und Südwesten Österreichs her
zu bestehen scheint. Gemessen an der Größe des Landes und an
der Zahl der Kirchen ist - im Vergleich zur inneren Steiermark
etwa oder zu Kärnten -- der Denkmälerbestand gering. Bei der
großen Rolle, die im allgemeinen die malerische Ausstattung
in den gotischen Kirchen spielt, muß angenommen werden,
daß in Niederösterreich entweder durch Umbauten oder durch
andere Umstände seit dem 16. und 17. Jahrhundert besonders
viel zugrunde gegangen ist und noch manches unter deckenden
Tünchcn verborgen liegt, oder, daß die Monumentalmalerci im
Mittelalter hier nicht in dem Maß Bedürfnis war, wie in den Ge-
bieten an der Südseite des Alpenhauptkammes. Es bleibt frei-
lich dahingestellt, 0b sich für ein Urteil in dieser allgemeinen
Form überhaupt je die nötige Grundlage ergeben wird.
Der verhältnismäßig geringen Anzahl der Denkmäler entspricht,
mit den oben angedeuteten Ausnahmen, eine im Durchschnitt
bescheidene künstlerische Qualität. Die Ausnahmen allerdings
entschädigen uns in mancher Hinsicht. So kann das Werden
und die Entfaltung des gotischen Stils in der österreichischen
Dürnstein, Ehem. Clarissinncnkir-
chi: (jetzt Museum), Kreuzigung
Christi mit Maria und johanncs
(um 1360).
Monumentalmalerei von den letzten jahrzehnten des 13. his
zur Mitte des folgenden Jahrhunderts nirgends so gut verfolgt
werden, wie an Hand einiger Wandgemälde und Gemäldezyklen,
die sich in niederösterreichischen Kirchen erhalten haben und
zum größeren Teil erst in den letzten Jahren ans Tageslicht
gebracht worden sind.
Die letzte Phase der romanischen Malerei, gleichzeitig die erste
Dokumentation des neuen „gotisehen" Stils offenbaren die um
1300 entstandenen Prophetcn- und die Apostelfiguren der Alt-
l i c h te n w a r t h e r Pfarrkirche und die noch unter einer he-
trächtlich stärkeren Spannung stehenden Heiligengestalten der
Chorausstattung von Michelstetten. Die unmittelbare Verbin-
dung aber eröffnet das von dem Kremser Bürger Gozzn um 1280
gestiftete Fresko mit der Krönung Mariae und der Kreuzigung
Christi in der ehemaligen Dominikanerkirche in Krem s, ein
Kunstwerk von hohem Rang, als dessen stilistischen Vorgänger
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