VON DEN ANFÄNGEN DES
EXPRESSIONISMUS
GOTISCHEN
Von GERHARD SCHMI
Die packende Ausdruekskunst der Spiitgotik ist nur scheinbar
eine Leistung ausschließlich des 15. Jahrhunderts. Schon das mo-
numentale 13. Jahrhundert hatte zwei neuc Probleme aufge-
griffen: die Lösung der Gebärdensprachc aus hieratischcr
Strenge und formelhafter Überlieferung ciners '15, anderseits
die Individualisierung des menschlichen Amlitzes, entweder
Judas enrbietet sich zum Verrat. Aus einer Armenbihel um 1331.
(Östcrr. Nar. Bibl., cud. 1198, folg. 5').
durch den szenisch begründeten Ausdruck, oder durch die un-
motivierte, gleichsam nur studienhalber fixierte „Grimassdh
Hzme die früh- und hochmittelalterliche Kunst ihr Auslangen
noch damit gefunden, den physiognomischen Ausdruck drei!
fach zu differenzieren, indem sie einer unbewegte-n „Normal-
lage" auf der einen Seite die Verzerrung in Schreck oder
Schmerz, auf der anderen die Verklärung zum Lächeln zuge-
sellte, so bringt nun das 13. Jahrhundert einen neuartigen Nu-
ancenreiehtum hervor. Hier wird nicht mehr allein zwischen
affekt-neutralen Gestalten und solchen unterschieden, die
Bösewichte und Verdammte oder aber als gnadenspendende
begnadete Personen (wie Maria, die Engel und die Seli
zu gelten haben, sondern es werden nun jenen drei Gemü
gen, die den Charakter wie ein Attribut bezeichneten und
her von der jeweiligen Situation unabhängig waren, schon r
cherlei andere Spielarten abgewonnen, wie sie sich nur
übergehend und aus einem bestimmten Anlaß manifestiert
So haben die berühmten „Masken", jene eigenartig zu K
mer oder Verzweiflung, zu Schmunzeln oder Gelächter
zerrten Zierköpfe an der Kathedrale von Reims, nichts r
mit ihren romanischen Vorgängern gemein, deren maskenl
Bildung viel Öfter einem spezifischen Willen zur Stilisiei
entspringt, als daß sie als seelisch motivierter mimischer .
druck zu deuten wäre. Im Gegenteil: die gewaltige Ausdrt
kraft der Romantik war letzten Endes nie „von dieser W
und bezog ihre Anlässe aus den Bereichen des Visionären
Dämonischen. Hier nun, in Reims, scheint sie völlig übert
den und abgelöst von einem sehr „modernen" Interesse,
sich auf den psychologisch fruchtbaren Augenblick und auf:
Spiegelung im menschlichen Antlitz richtet. „Le sourii
Reims", jenes vielbewunderte Lächeln an den Engeln des
sephsmeisters", kennzeichnet diese zwar noch ganz allgei
als Boten aus einer heiteren Überwelt, nimmt aber unter
Hand des Künstlers jenen besonderen Charakter an, der e:
auf einen bestimmten Moment gemünzt erscheinen läßt.
mit tritt es zugleich auch zu den „transitorischen", augenbl
haften Bewegungsmotiven in Beziehung, welche dieser g
Meister seinen Figuren zu geben liebte und welche - die
tuen aus dem strengen Zusammenhang der Architektur lö
- sie dort gleichsam nur zu Gast sein lassen, wo ihre Vor
ger noch eine unverrückbare Heimstatt hatten.
Diesen französischen Bildwerken des mittleren 13. Jahrhun:
ist freilich zunächst ebensowenig eine echte Nachfolge best
den wie der Kunst jenes großen Plastikers, dessen spannu
geladene Reliefs an den Lettern von Mainz und Naumburg
Dramatik einer Szene auch gestisch und mimisch ausschöt
- Möglichkeiten der Kunst vcrwegnehmend, die Giottos l
ken ein halbes Jahrhundert später in einem empfänglicheren
lieu neuerlich verwirklichen sollten. Das gilt auch von den
dcrcn großen Einzelleistungen des 13. Jahrhunderts: von
„terribile" in den Gestalten eines Nicola Pisano, von der E
gung, die aus den Propheten der Straßburger Westfas
spricht, von der explosiven Gestik in den XVerken des „E
noldmeisters" oder von den Figürchen des englischen Bucl
lers W. de Brailes, der schon im zweiten Jahrhundertviertel s
Szenen mit dem Humor einer naiven und ungemein treffsich
Psychologie würzte.
Alle diese Versuche gehen nebeneinander her, treten kaut
Wechselwirkung, und scheinen dann völlig yergessen zu
den, um im frühen 14. Jahrhundert einer viel ausdrucksärm:
ganz der Lieblichkeit eines manieristisehen Schönheitsit
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