hindert, daß die Mittel zum Verständnis des Universums andere
sind, als die durch den Verstand und die Sinne gegebenen". Daß
die westliche Kunst „auf den Begriffen der Vollkommenheit
fußt, die aus dem llandwerk kommen, darin vorhergedacht sind
und sich in vorhergesehenen Schemata gestalten". (Dies sind
Dinge, die wahrlich nicht nur der okzidentalen Malerei zu eigen
sind.) Darum soll nach Mathieu die Malerei die letzten Schön-
heitskanons über Bord werfen, um das „Nichts der Grenzen der
Freiheit wiederzufinden, von denen aus alles möglich wird",
darum muß das Zeichen der Bedeutung vorausgehen, muß das
„Nichts am Anfang des schöpferischen Aktes stehen".
Es ist müßig, auf das grundlegende Mißverständnis einzugehen,
das die Ausführung als den schöpferischen Akt an sich ansieht
und nicht nur als Teil dieses komplizierten Phänomens. Es ist
auch müßig, über die von Mathieu mißverstandenen und falsch
interpretierten Erkenntnisse und Erscheinungen der modernen
Wissenschaft zu sprechen, die er als Zeugnis für die „direkte
Malerei" anfübrt und die nur wieder beweisen, daß der Mensch
den Kosmos letztlich doch nach seinen von ihm aufgestellten
Maßen mißt, ja messen muß, und die keineswegs die euklidsche
Geometrie außer Kurs setzen. Sie haben auch keinerlei Bezug
zu den ewigen Problemen der Malerei und werden heute nur
immer wieder als Roßtäuschertrick hervorgeholt, um über die
eigentlichen plastischen Gesetze hinweggehen zu können. l-Iicr
zeugen diese „Lesefrüchte" flüchtigster Art nur von der Halb-
bildung und Begriffsverwirrung, die Mathieu kennzeichnet. Es
ist aber vielleicht doch notwendig, darauf hinzuweisen, daß Ma-
thieu, während er glaubt, den Menschen als Maß durch die Be-
freiung von Verstand und Sinnen zu entthronen, ihn gerade
dadurch als Individuum, als wirklich absolutes Maß einsetzt.
Sowohl dem Verstand als auch den Sinnen sind Annäherungen
an eine objektive Erkenntnis möglich. Ihre absolute Negation,
die Befreiung der Emotion, beschwört das absolute, subjektive,
autistische Chaos herauf, dem wir bei ihm gegenüberstehen. Ce-
zanne konnte mit Recht, nachdem er arbeitend und meditativ
um die Formen des Mont Saint Victoire gerungen hatte, sagen:
„Die Landschaft denkt sich in mir." Es ist die demütige Zurück-
nahme vor dem Geheimnis des schöpferischen Aktes, die in den
Formen und Erscheinungen der Schöpfung Glanz und Abglanz
höherer Wahrheit sieht. In Mathieu denkt sich nichts, es „nich-
tet" sich das Nichts zu einer gespenstischen Grimasse und Ge-
bärde. Die totale Entleerung steht am Anfang und am Ende,
nicht einmal dic Disziplin der schwarzen oder weißen Magie.
Und es ist wirkliche Vermessenheit, anzunehmen, daß in das
leere Gefäß um jeden Preis schöpferische Kraft einströmen muß
und nicht zerstörerische.
Selbstverständlich wirken nach der Gcstalttheorie Linien, For-
men und Farben allein schon durch ihre strukturelle Gestalt,
unabhängig von jcdcr vorhergegangenen Erfahrung des Sub-
jektes, unmittelbar auf die Psyche ein _ wobei der Begriff der
Form hier über Gebühr erweitert erscheint. Aber dieses psy-
chische Erlcben bleibt gestaltlos, bezuglos wie sein Anlaß, wenn
es von Erfahrung, Geist und Verstand getrennt wird. Den Men-
schen auf seine psychische Ebene allein begrenzen zu wollen,
hieße ihn verneinen und wäre absurd. Das wahre Kunstwerk
spricht alle Ebenen des Menschen gleichzeitig an und darüber
hinaus noch eine der höheren Wahrnehmung, die ihm - in der
Bezugsetzung - gestattet, seine Position zu erkennen.
Aus den Bildern Mathieus - und nicht nur seinen - strömt,
wenn der erste Schock vorüber ist, gähnende Leere. Die Lange-
wcilc der absoluten Freiheit faßt uns an, weil diese Bilder nicht,
wie Kunstwerke, eine Welt beinhalten. Im Grunde sind sie nicht
einmal Stellungnahmen. Sie apokalyptisch zu nennen, heißt,
ihnen zu viel Ehre anzutun. Denn wie jederzeit aus dem Neuen
Testament entnommen werden kann, besitzt die Apokalypse
Gestalt und Form und sie zu malen, würde heißen, zu ihr
Stellung zu nehmen. Dazu aber bedarf es wirklicher, schöpfe-
rischer Potenz und nicht die clevere Mache, die mit der Un-
sicherheit dcs Publikums und dem - scheinbaren - Zusammen-
bruch der Werte rechnet. Das Groteske an Mathieus Standpunkt
entlarvt sich vollends, wenn er, der mit einer großzügigen
Handbewegung die ganze geistige und künstlerische Tradition
des Abendlandes unter den Tisch zu fegen versucht, dann in der
„direkten Malerei" zwei Elemente traditioneller Kunst ent-
deckt und in einzigartiger Gedankenakrobatik folgert: „Erstens
kann - was immer auch die Bedingungen des Schaffens sind -
der Maler seiner Spontanität freien Lauf lassen, aber cin Maxi-
mum an Kontrollmitteln bewahren, in jener Dialektik der Ent-
scheidung und der Kontemplation, die im Grunde immer am
Ursprung der wahren Kunst stand. Zweitens ist es so, daß die
Malerei auch 1959 ein Mittel des Ausdrucks bleibt. Ausdruck
eines Inhalts, ewigen Inhalts: das Drama des Menschen gegen-
über der Welt... Die Avant-Garde sind in Wirklichkeit die
Neuen Formen, vorhergeahnt vor ihrer Integrierung. Aber onto-
logisch und paradoxal gibt es eine Nähe und totale Identität
zwischen ihnen und den traditionellen Formen. Die wirkliche
Avantgarde macht nichts anderes, als auf logischeste Weise, auf
kontinuierlichste Art, die wahre Tradition fortzusetzen." Das
heißt wirklich, den Kuchen zugleich aufessen und behalten
wollen . . .
Dieser Pathetik könnte man das Wort eines der von Mathieu so
oft zum Zeugnis angerufenen Künstler entgegenhalten, des chi-
nesischen Malers Kuo Hsi (um 1050 n. Chr.) die im „Lin Ch'üan
Kao Chih, die große Abhandlung von Wald und Quellen"
stehen:
„lch sah in unseren Tagen Anfänger, die hastig den Pinsel er-
greifen und unbedachtsam einige Ideen hinwerfen und mit ihrer
Schmiererei und Rciberei unser Gefühl erschrecken. Die Augen,
die auf ihre überfüllten Bilder blicken, werden stumpf, die Wir-
kung ist höchst unangenehm. Werke, die in so leichtfertiger
Weise gemacht werden, können nichts Hohes oder Großes aus-
drücken."
Bilder S. M:
Der Kardinal Mathicu beauftragt den heiligen Bernhard mit dem Sekrc-
taria! des Konzils von Troyes (1958).
Bilder S. 17:
Malhicu bei der Arbeit. Er „mnlte" in Wien ein 6 X 2.5 m großes Bild
unter Musikbcgleitung in 50 Minulen.
Die Waffen des jaqucs de Lalaing. 1957.
Mont joie Saim Denis (französischer Schlachtruf des hiiuelnllers). 1954.
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