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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 3)

Spätestens seit der „Erfindung" simultaner Malerei durch 
die Kubisten und Futuristen und dem damit verbundenen 
Versuch, einem neuen Weltbild oder Weltgefühl einen 
adäquaten Ausdruck zu geben _ seit den ersten, noch 
tastenden Schritten, das Urgründige und Universale 
durch Vorstöße ins Unbekannte, Unbezeichnete und Gei- 
stige der absoluten Malerei sichtbar werden zu lassen, 
haben sich die Maßstäbe für die Beurteilung zeitgenös- 
sischer Malerei verändert. Vorher aber schuf sie sich. 
jene Gesetze, denen sie seit etwa fünfzig Jahren unterliegt 
und die zu untersuchen oder zu erkennen notwendig 
sein wird, wenn man neuen Versuchen der Objektivie- 
rung veränderter Seh- und Empfindungsweise gerecht 
werden will. 
Mit der Betrachtungsweise, wie man sie herkömmlicher 
Malerei entgegenbringen kann, kommt man der Malerei 
der Tachisten, der emotionellen Malerei der Informellen 
nicht nahe genug, um ihr Wesen. ihre Gründe und ihr 
Wollen zu begreifen - um sich eine Handhabe dafün 
zu bilden, das Ungare und Fahrlässige von den guten. 
Leistungen zu trennen. Trotz der Kriterien, die man für 
sie wie für jede andere Art des Malens theoretisch auf- 
stellen kann, wird es jedoch viel weitgehender als bei 
jener dem empirischen Empfinden überlassen bleiben, 
wie und unter welchen Aspekten man sie einschätzt; 
dieses Empfinden ist so unerlaßlieh, daß sein Fehlen 
gegenüber dieser freien, ein wenig anarchistischen Ma- 
lerei wohl von einem völlig beziehungslosen Gegenüber- 
stehen begleitet wird. Ein rein empirisches Betrachten 
dieser motorischen Malerei ist aber schon insofern be- 
rechtigt und angebracht, als damit dieselben Regungen 
ins Spiel geführt werden, die auch für das Entstehen der 
Bilder einen Hauptkoeffizienten bilden. Der Entstehungs- 
prozeß eines tachistischen Bildes ist der Eruption eines 
Vulkans vergleichbar: alle angestaute Seelenlava wird 
in einem mächtigen, konzentrierten Anlauf hervorge- 
Schleudert, und die einzige Kontrollmöglichkeit besteht 
für den Maler im allgemeinen in einer ihm unbewußten, 
mit dem Schaffenswillen aus tieferen Schichten empor- 
steigenden Korrektur, die das Stück bemalter Leinwand 
davor schützt, nichts anderes zu sein, als eben bemalte 
Leinwand. 
Was aber ist informelle Malerei, wo beginnt sie, wie 
schreitet sie fort und wohin gelangt sie? 
Vieles von dem, was heute oft vergebens zu erreichen 
versucht wird und das zugleich den Beginn dieser psy- 
chischen Malerei bildet, sehen wir etwa in den Anfängen 
Kandinskys, in den farbigen, bewegten, spannungs- 
reichen, von Knäueln, Linien und Bogen beherrschten 
Bildgefügen seiner ersten, noch akonstruktiven Periode 
ungegenständlicher Malerei. Obwohl wir in ihr bereits 
einen Höhepunkt jenes Bemühens besitzen, das vorgibt, 
seinen Beginn bei Wols zu haben, hat die „lyriseh- 
abstrakte" Malerei, wie Mathieu sie nennt, Fortschritte 
gemacht und sich eine eigene Welt geschaffen, eine Welt 
voller Entdeckungsmöglichkeiten auch für den Be- 
schauer, und eine Welt, die den Mikrokosmos, Nebel- 
schleier und Protuberanzen, das Geflecht der Winden 
und Moose, Atmosphärisches und Überwirkliches, mate- 
riefrei Schwebendes in sich birgt: so in der pazifischen 
Schule der Amerikaner, bei Wols, bei Schumacher und 
bei manchen anderen _ in deren besten Zeugnissen. Mit 
diesem Blick gesehen, und alles Ungegorene, Halbe und 
Belanglose, das sich in dieser Art von Malerei wie in 
keiner anderen breitmachen konnte, beiseite lassend, 
nimmt die informelle Malerei einen beachtlichen Platz 
innerhalb der zeitgenössischen Malerei ein. Die Werke 
jedoch, von denen man behaupten könnte, sie blieben be- 
stehen, sind sehr rar. Vor jeder Ausstellung, in der man 
KRISTIAN SOTRIFFER 
GIBT ES EINE 
ABENDLÄNDISCHE 
KALLIGRAPHIE? 
Wege und Irrwege inlormeller Malerei 
 
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