NEUE RÄUME IN
DER MALEREI?
CLAUS
PACK
lmmer wieder taucht, sowohl im Kunstjournalismus wie in der Literatur, die sieh mit
der Malerei des 20. Jahrhunderts beschäftigt, die Behauptung auf, daß in der gegenstands-
losen Malerei „neue Räume in Erscheinung treten". Die Hartnäckigkeit, mit der sie ver-
treten wird, fordert dazu heraus, ihre Berechtigung näher zu untersuchen, dem Begriff
des Raumes auf den Grund zu gehen und festzustellen zu versuchen, oh und wann tat-
sächlich in der Malerei der Gegenwart von einer neuen Raumvorstellung zu sprechen ist.
Der R aum, wie er sich dem Menschen darstellt, ist ein haptiscbes, optisches, akustisches
und übergeordnet, ein geistiges Erlebnis, das in der Erfahrung begründet ist. Das
ursprüngliche Raumbild des Menschen ist, wie es Experimente mit Kleinkindern und
Blindgcborenen zeigen, die nach einer Operation sehen lernen, flächig und plastisch
undifferenziert. Die Erkenntnis der Fülle des dreidimensionalen Raumes vollzieht sich
durch die Erfahrung, die zuerst durch baptischc, dann optische Erlebnisse gesammelt
wird. Der Geist gliedert und ordnet diese Erlebnisse, um zur Anschauung der Welt der
plastischen Formen zu kommen, die den dreidimensionalen Raum ausmachen. Sie ist
unsere Erlebniswelt, durch Tasten, Bewegung und Augenschein lernen wir sie in ihren
Ausdehnungen, Texturen, Eigenarten und in ihrem Wesen erkennen, benennen und be-
greifen. Wir sehen, daß die Formen, die Gegenstände, voneinander verschieden sind und
durch Distanzen getrennt. Unsere psychischen Affekte und Erlebnisse vollziehen sich vor-
wiegend an ihnen. So kann man sagen, daß die Ausdehnung der Formen und die Distanzen
zwischen ihnen, den dreidimensionalen Raum gliedern, sie werden zu objektiven Kate-
gorien, die uns befähigen, über ihn etwas auszusagen. Entleeren wir den Raum von Formen,
so kann er nicht erfaßt werden, seine Relation zum Beobachter nicht festgestellt und nicht
differenziert werden, weil die Anhaltspunkte fehlen. Raum und Form sind daher vonein-
ander im Erlebnis nicht zu lösende Bedingungen. Wollen wir über die Form etwas aus-
sagen, so muß der Raum, den sie bildet, muß sie raumbildend in Erscheinung treten.
Wollen wir den Raum sichtbar machen, muß er durch Formen abgesteckt werden. Durch
die Erfahrung, durch das Erlebnis an den Formen tritt eine neue Dimension hinzu: die der
Zeit. Sic ist das Leben der Form, das Wachstum, das Vergehen. Über sie soll vorläufig
nicht gesprochen werden.
Soll also Malerei als Kunst Objektivierung eines Erlebnisses sein, eines Erlebnisses, das
sich an irgend einem Ding der sichtbaren Welt begeben hat und das, um sich verständ-
lich zu machen und objektiviert zu werden, Dinge der sichtbaren Welt wählt, um an ihnen
sichtbar zu werden, so wird in irgend einer Modalität Form und Raum zur Darstellung
kommen müssen. Es soll hier behauptet werden, daß konkrete Mitteilung einer Erkenntnis
oder eines Erlebnisses nur durch die Darstellung von Dingen der sichtbaren Welt erfolgen
kann, weil sie das einzige Mittel bilden, an denen Aussage geschehen kann. ln der bil-
denden Kunst sind sie der Spiegel, in dem sich die Persönlichkeit des Malers abbildet, sie
sind gewissermaßen die Worte, deren Relation zueinander, deren Auswahl und Formung
den Stil darstellten, in dem sich ein Bewußtsein mitteilt. Da sie die einzigen Korrelate
sind, über die einigermaßen Einigkeit herrscht, stellen sie das mölgliche Vokabular
zur Verständigung dar. Je mehr die Bindungen zur sichtbaren Formenwelt gelockert
werden und je subjektiver die Beziehung zu ihr wird, bis zur vollkommenen Lösung von
ihr, um so mehr geht die Möglichkeit zurück, zu einer Verständigung zu kommen. An
die Stelle des Dialogischen tritt der Monolog einer allein im Künstler sich vollendenden
Malerei, die autistiscb ist und zu keiner geistigen Kommunikation mehr fähig, da sie
nur mehr subjektive Gefühlszustände und Erregungen zu spiegeln imstande ist.
Es hieß oben, daß der Raum in irgend einer Modalität zur Darstellung gelangen müsse.
Damit war gemeint, daß er den Gesetzen der Malfläche entsprechend gegliedert und
gestaltet, das heißt als Ordnung, als Kunstwerk, auftreten muß. Das sind Bedingungen,
die sowohl das Illusionäre wie den Naturalismus ausschließen, die beide nur ungeordnet
in Erscheinung treten können. Das heißt weiter, daß er verschiedenartig sichtbar gemacht
werden kann, ob es nun im zweidimensionalen Raum der frühen Kunst, dem unendlichen
Tiefenraum Rembrandts oder dem reduzierten, aperspektivisehen Raum Cezannes ge-
schiebt. Das alles sind Möglichkeiten seiner Formulierung, die jede für sich ihre Gültig-
keit besitzen. In der Geschichte der Kunst gibt es deren noch mehrere, da sie im
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