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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 4)

DIE AUGEN: 
PFORTE DES GEISTES, LICHT DES HERZENS 
ERNST 
KC 
Unter Kanonendonner, in einer Höhle von Belleville, er- 
blickte Georges Rouault während des Aufstandes der 
Pariser Kommune am 27. Mai 1871 das sehr fragwürdige 
Licht einer Welt, die sich eben daran machte, den Weg 
der Katastrophen, des totalen Unglücks zu gehen und 
ihren Bewohnern jenen inneren Notstand auizuerlegen, 
der das Hauptthema im Lebenswerk des Künstlers sein 
sollte. Für Rouault, den religiösen Künstler des 20. Jahr! 
hunderts kat exochen, war nach eigenen Worten die 
„Malerei ein Mittel, das Leben zu vergessen". jenes Le- 
ben, das lange Zeit für ihn der Inbegriff des Schreck- 
lichen, Teuilischen. des Ausgestoßenseins schlechthin zu 
sein schien. Der Gang seines Schaffens aber mündete 
(nach Dorival) nach dem Durchschreiten eines Bereichs 
von Pessimismus und Zorn (1902-1914) über die stei- 
nerne Härte der Jahre von 1914-1925, in der Zeit um 
1930 in den Frieden ein, um - seit 1948 etwa - in 
Freude zu enden, wie sie der Künstler selbst unübertreff- 
lich in Worten charakterisiert hat: „Oh. Freude! Du bist 
kein hartnäckiges und unanständiges Lächeln, du gleichst 
den friedlichen, wellenlosen Wässerchen eines kleinen, 
klaren Bächleins der Ile-de-France, in dem weiße Häuser 
sich spiegeln. .." 
Rouaults Weg zur Freude führt durch die Vorstädte des 
sozialen Grauens, führt zu trostlosen liabrikanlagen, 
durehmißt die Rummelplätze der Verzweiflung, er ist ein 
Suchen nach dem verschütteten Menschlichen im Men- 
schen, nach einem Licht in eingestürzten Kellern: „Im 
Grunde der Augen auch der verstoßensten, undankbar- 
stcn und unreinsten Kreatur wohnt jesus", das ist das 
Credo seines Schaffens. So sieht er, der Zeitgenosse von 
Toulousc-Lautrec, die „sogenannten Freudenmädehen", 
die Can-Can-Tänzerinnen, Zirkusreiterinnen und Clowns 
nicht als degagierter Zyniker oder reiner Formalist, dem 
die richtige Kombination von Formen und Farben mehr 
ist als das Schicksal eines Menschen, er bleibt auch nicht 
bei der praktischen Ironie des großen Vorbildes Dau- 
mier stehen („Ich habe nie die Absicht gehabt, Rächer 
zu sein oder zu moralisieren"), seine Unglücklichen 
haben einen universellen Wert, sie sind Träger der Con- 
ditio humana unserer Tage schlechthin - nach Dorival 
„unvergeßliche Modelle eines dilirierenden Expressionis- 
mus". Das verleiht ihnen jenc erschreckende Wirklich- 
keit, die bezeugt, daß sich in ihnen Gesehenes, Erlebtes 
verdichtete. Nirgendwo ist die Rede von bläßlichem Alle- 
gorismus, in keinem Fall hat man das Gefühl, vor blut- 
leerer, horhmütiger Philanthropie zu stehen. „Ich gehöre 
zum Volk", durfte Rouault bekennen, und so verglich 
er auch die praktische Seite seines Schaffens mit dem 
der Handwerker: „Ich bin Handwerker von Natur aus", 
sagt er einmal, „und ich liebe meinen Beruf so stark, 
wie die Berufsgenossen in alten Zeiten dies taten." 
Diese Gesinnung bewahrte Rouault davor, den gleichen 
Gefahren zu erliegen, an denen sein bewunderter, ge- 
liebter Lehrer, der „Animatt-u)" Gustave Moreau, ge- 
scheitert war: Sein Schaffen ist nicht Literatur, auch in 
 
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