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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 11 und 12)

Glashaus über die Ausstellungs- 
hallen des 19. Jahrhunders bis zu 
seinem Ursprung. dem verglasten 
Treibhaus, verfolgt. Es hat sich er- 
geben, daß es im Anfang künstlich 
gezüchtete oder am Leben erhaltene 
Pflanzen waren. für die ein Glas- 
haus gebaut werden mußte. Es 
verdient festgehalten zu werden, 
daß auch bei den modernen Bauten, 
die um des Lichteinfalls willen 
weitgehend aus Glaswänden beste- 
hen, das Moment des Künstlichen 
keineswegs ausgeschaltet ist, ja im 
Gegenteil durch die Klimaanlagen, 
die gerade eine völlige Unabhängig- 
keit von der Außentemperatur zur 
Folge haben, noch gesteigertwird. 
Die Aufgeschlossenheit gegenüber 
der Natur geht also mit einer Ver- 
gewaltigung derselben Hand; in 
Hand. Daß der Innenraum der Be- 
strahlung durch das Tiageslicht aus- 
gesetzt und damit besser beleuchtet 
wird, ist der zweite und für Aus- 
stellungsbauten entscheidende Grund 
für die durchgehende Anwendung 
von Glas. 
Schließlich ist zu betonen, daß die- 
jenigen Glasbauten, die dem Be- 
schauer von außen völlig freien Ein- 
blick in das Innere des Hauses ge- 
währen, typischen Ausstellungscha- 
rakter tragen. Während diese Über- 
schaubarkeit bei einer Ausstellung 
mit ihrem Appell an die Öffent- 
ichkeit selbstverständlich ist, muß 
sie bei einem Büro- oder Fabrikge- 
bäude und erst recht bei einem 
Wohnhaus Befremden erregen, da 
'IiCI' ja normalerweise kein Schau- 
oedürfnis der Öffentlichkeit vor- 
iegt. Es ergibt sich daraus die 
iolgerung, daß bei Glasarchitektur 
eine Kontrollmöglichkeit deröffent- 
ichkeit besteht. Ein solches Ent- 
gegenkommen gegen alle anderen 
Bürger ist nur in einem demokrati- 
schen Staat möglich. 
is ist demzufolge kein Zufall, daß 
alle gezeigten Glasbauten des 20. 
Jahrhunderts - bei denen es sich 
"a in keinem Falle um Ausstellungs- 
architektur handelte - in demo- 
cratischen Ländern errichtet wor- 
den sind. Die modernen Diktaturen 
- sowohl der Bolschewismus wie 
der Nationalsozialismus - haben 
das Glashaus ignoriert. Es sei hier 
ein interessantes Beispiel aufge- 
führt, das zunächst den Schein des 
Gegenbeweises für sich hat. In den 
ersten Jahren des Bolschewismus 
hat nämlich der russische Architekt 
Tatlin ein Denkmal der Dritten In- 
ternationale für Leningrad entwor- 
fen." Drei riesige Glaskörper soll- 
ten nicht nur übereinander aufge- 
hängt, sondern auch spiralförmig 
gegeneinander in ständiger Bewe- 
gung gehalten werden. Der untere, 
würfelförmige Raum war für Sit- 
zungen der Internationale bestimmt. 
Der nächsthöhere Raum in Form 
einer Pyramide sollte die Verwal- 
tung aufnehmen, und der oberste 
Teil - in Gestalt eines Zylinders 
-war einem Informationsbüro vor- 
behalten. Die Glasbauweise zielte 
hier auf völlige Überschauharkeit 
des Staatsgetriebes ab. Es nimmt 
nicht Wunder, daß das Projekt nie- 
mals realisiert wurde. Es beweist 
aber, daß wir auf dem richtigen 
Wege waren, als wir die Tendenz 
des Glashauses nicht nur in Rich- 
tung auf größere Naturnähe und auf 
bessere Beleuchtung, sondern vor 
allem auf ihren Ausstellungscha- 
rakter hin kennzeichneten. 
12 Glashaus in Wien, Unteres Belve- 
dcre, 1715 (Stich von Salomon Kleiner). 
12 
 
' Handbuch moderner Architektur, Safari-Verlag Berlin 1957, 378-379. - 2 Handbuch, a. a. O., Abb. S. 175 (Entwurf). - 
. joedicke: Geschichte der modernen Architektur, Stuttgart 1958, Abb. 139 (Ausgeführte Bauten). - 3 Perspektiven, Heft 8, 1954, 
Abb. 1a. _ 4 j. _IOCd1Cl(C, a. (i. 0., Abb. 223. _ 5 j. joedicke, a. a. 0., Abb. 224. - ß j. JOCCÜCkC, a.. 0., Abb. 118. _ 1 j. JOC- 
dicke, a. a. O., Abb. 221. - 3 j. Jocdicke, a. a. 0., Abb. 113. - 1' K. W. Luckhurst: The Story of Exhibitions, London 1951, Abb. 
 
S. 128. N. Pcvsner: Wegbereiter moderner Formgebung, Hamburg 1957, 81, Abb. 43. - l"  gloedicke, a. 21.0.. Abb. 28. - 
1' K. W. Luckhurst, a. a. O., Abb. S. 89. - n Perspektiven, Heft 8, 1954, Abb. 1. Vgl. auch H.-R. Hitchcock: Architecture, Nine- 
tcenth and Twcntieth Centuries, Harmondsworth 1958, 124-126. - 13 G. Lehnert: Illustrierte Geschichte des Kunstgewerbes, 2, 
Berlin o. j., Abb. S. 411. - 14 Der GlaSpalast der Industrie-Ausstellung aller Nationen von j. Paxton, Leipzig 1851, 8-9. - 
15 Glaspalast, a. a. 0., 44. - 1" M. L. Gothein: Geschichte der Gartcnkunst, Il, Jena 1914, 42.5, Abb. 614. N. Pevsncr: Derby- 
shire, London 1953, 93. - 17 K. W. Luckhurst, a. 21.0., Abb. S. 88. - "l A. Tschira: Orangerien und Gewächshäuser, Berlin 1939, 
30. - 19 A. Tschira, a. a. 0., 71, Abb. 51. - 2" Schon im Mittelalter hat man sich das Glashaus erträumt. Chaucer erblickt einen 
Vcnustcmpel aus Glas (im „House of Fzune"), John Lydgatc hat dasselbe Thema in seinem Temple cf Glas aufgenommen. Vgl. 
W. F. Schirmer: John Lydgatc, Tübingen 1952, 32-33. - 2' R. Fülöp-Millcr: Geist und Gesicht des Bolschcwismus, Zürich-Leip- 
zig-Wien 1926. 140-141, Taf. 66 und 67. 
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