IN UNSERER FORTLAUFENDEN ARTIKELSLERIE
OFFENTLICHEN WIR DEN 2. AUFSATZ
„ARCHITEKTUR
DES 20. JAHRHUNDERTS"
VER-
DAS
HAUS
MÜLLER
PRAG
WILHELM MRAZEK
hervorgegangen: ich habe die menschheit vom über-
flüssigen ornament befreit. ,Ornament' war einmal das
epitheton für ,schön'. Heute ist es aber durch meine
lebcnsarbeit ein epithcton für ,minderwertig'."
Im gleichen Jahre 1930 schuf Loos auch sein architek-
tonisches Hauptwerk. Die Summe der Erfahrungen, die
Loos hier verwirklichen konnte, macht dieses Haus zu
seinem architektonischen Bekenntnis und Vermächtnis.
Allerdings entstand es nicht auf Wiener Boden. Ein
Prager Bauherr, Dr. Müller, war der Auftraggeber. ln
ihm fand Loos einen verständnisvollen Förderer seiner
Ideen, der ihm bei der Realisierung völlige Frei-
heit ließ.
Das Haus Dr. Müllers liegt auf einem Steilhang. Seine
kubische Grundform gewinnt durch den Niveauuntcr-
schied verschiedene Ansichten. Kein dekoratives Orna-
ment beeinträchtigt die kristallglatten Außenwände,
keine vertikale Fenstergliederung schmälert die sterea-
metrische Würfelform. Durch unterschiedliche Fenster-
breiten, die herausgeschnittenen Öffnungen gleichen,
entsteht ein horizontal geführter Rhythmus von drei
übereinanderliegenden Wohnzonen. Das seharfproli-
lierte Gesimsband faßt diese Rhythmen zusammen und
bildet einen kantigen oberen Abschluß der Wände. Alle
Gestaltungselemente des Außenbaues sind konstruktive,
notwendige Formen. Sie schaffen eine eigenwillige
Disposition und einen besonderen Rhythmus, dessen Ur-
sache im Innercn des Baublockes liegt.
Betritt man das llaus vom höhergelegenen Straßenzüge,
so gelangt man über Gang und Vestibül in ein Vor-
zimmer, das die Garderobe enthält. Von hier kommt
man über eine Stiege in jene Räume, die dem täglichen
Leben der Familie und gesellschaftlichen Zusammen-
künften gewidmet sind: der Halle und dem über einer
kleinen Treppe zu erreichenden Annex des Speisezim-
mers. Dieses ist durch eine Anrichte direkt mit der
Küche verbunden. Über einen zweiten Treppenzug cr-
reicht man von der Halle das Boudoir der Dame, das
durch ein breites Fenster die Verbindung zur Halle
aufrecht erhält. Mit dem Boudoir ist der Übergang zu
den privaten und persönlichen Räumen hergestellt.
Über dieser Wohnzone liegen die Räume des Haus-
herren: Bibliothek und Arbeitszimmer. Sie sind über
eine Treppe zu erreichen, letzteres aber auch durch
einen Eingang vom Boudoir der Hausfrau. Die oberste
Wohnzone enthält Schlafzimmer, Garderoben, Kinder-
zimmer und Gästezimmer.
Adolf Loos stattete jeden Raum entsprechend seiner
Funktion im privaten oder gesellschaftlichen Zusam-
menhange aus. ln den Nebenräumen des Souterrains
herrschen einfache Materialien wie Travertin, rote
Chamotteziegeln, Lack und japanisches Rohr vor. Die
Wände der weiß verputzten Halle sind mit grünlichem
Marmor (Cippolin) belegt, das Speisezimmer mit Ma-
hagoni und schlesischem Sycnit. Im Boudoir leuchtet
gelbes Zitronenholz, dem Arbeitszimmer des Herrn ver-
leiht Mahagoni eine ernste Note. jeder Raum entspricht
bis ins letzte Detail seiner Funktion. Äußeres und
Inneres sind ein Organismus und repräsentieren alle
Sphären seiner Bewohner allein mit architektur- und
materialgerechtcn Mitteln: die geschlossene Monumen-
talität, die Repräsentation, die Intimität des persönli-
chen Lebensbereiches.
Adolf Laos hat als Architekt immer in drei Dimensionen
gedacht. Er lehrte seinen Schülern ein „kubistisches"
Denken und befand sich damit im äußersten Gegensatz
zu den „Ornamentikern" der Wagner-Schule, deren
ornamentalen Stil er als ein „Verbrechen" ansah. Die
l Haus Müller in Prag, Außenansicht.
2 Haus Müller in Prag. Eingang.