IN UNSERER FORTLAUFENDEN ARTIKELSERIE ZUR ÖSTERREICI
HUNDERTS VEROFFENTLICHEN WIR DEN 53. AUFSATZ
IISC
EN KUNST
DES 20.
JAHR
ALBERT
BIRKLE
Glasmalereien
und
Zeichnungen
VIKTOR GRIESSMAIER
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Zur Sonderausslellung im Usieneichischen Museum lül angewandte Kunsl - Winler 1960161
Eines der wundervollsten Geschenke des Mittelalters an
die Menschheit ist die Glasmalerei. Der Gliederbau der
gotischen Kathedrale ließ zwischen den tragenden Pfei-
lern der Außenmauer Wandfelder entstehen, die frei von
lastenden Kräften waren und die man daher mit riesi-
gen Fenstern durchbrechen konnte. Aber diese gewalti-
gen Öffnungen, die kaum mehr Fenster zu nennen waren,
mußten doch wieder geschlossen werden, um den Raum
zu umgrenzen. Diese seltsame Dcppelfunktion: Wand
und zugleich Aufhebung der Wand zu sein, bestimmt
das Wesen des mittelalterlichen Glasfensters oder
Glasgemäldes.
Daß es diese beiden Bezeichnungen gibt, ist allein schon
kennzeichnend für die geheimnisvolle Eigenart dieser
Kunstwerke, die sich mit Benennungen, welche der Ge-
brauchssprache entnommen sind, nicht befriedigend
charakterisieren lassen. Denn sie sind ebensowenig Fen-
ster, wie Gemälde oder Wand.
Mit der Wand haben sie gemeinsam, daß sie den Raum
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begrenzen, aber sie schließen ihn nicht ab und es fehlt
ihnen das Körperhafte der Wand, deren Masse. Sie sind
Fenster, aber sie entziehen sich der Aufgabe eines Fen-
sters, denn sie geben keinen Ausblick ins Freie und sie
lassen nicht das helle Licht des Tages in den Raum
fluten. Am wenigsten, so könnte man es ein wenig über-
steigert formulieren, sind mittelalterliche Glasfenster
Gemälde, denn ihre große, faszinierende Wirkung geht
zunächst von der strahlenden Leuchtkraft, von der Glut
der Farben aus und nicht von der bildlichen Darstellung.
Es bedarf eines bewußten Willensaktes und einer nicht
geringen Bemühung, sich von der sinnlichen Erscheinung
abzukehren und den bildhaften Inhalt aufzufassen. _]e
stärker ein Glasfenster den Bildcharakter betont, je
mehr es Gemälde wird, desto weiter entfernt es sich
von seiner Aufgabe und von seinem Wesen, bis es
schließlich zum banalen Guckkastenbild entartet. Es
war die Tragik des 19. Jahrhunderts, diesen fatalen
Irrtum begangen zu haben.