Gewiß kann es als Vorteil dieser Situation in einer von Abbildern überfluteten Welt
gewertet werden, daß hier auch dem Naivsten klar geworden sein muß, dafS die
Aufgabe bildender Kunst in einer solchen Zeit nicht mehr das Abbilden, sondern
nur die schöpferische Gestaltung sein kann.
Aber welche Konsequenzen haben wir daraus gezogen?
Man wird es gewiß als eines der erfreulichen Zeichen eines hohen Verantwor-
tungsbewußtseins gegenüber bildender Kunst werten, wenn die zuständigen Stellen
sich dazu verpflichtet haben, einen gewissen festen Prozentsatz ihrer Ausgaben für
öffentliche Gebäude auch für Wandbilder und Plastiken an diesen Gebäuden aus-
zugeben - sie dokumentieren damit ihren Glauben an die Aufgabe der bildenden
Kunst, und dafür muß man ihnen dankbar sein. Auf dieser Grundlage besitzen
wir eine früher in solcher Menge kaum dagewesene öffentliche Präsentation an
Wandbildern und Plastiken. Wie kann sich aber die Ausstrahlung, die Intensität
der Bildcrlebnisse, ihre eigentliche Wirksamkeit noch steigern, ihre Geltung im
Geistesleben größer werden?
Die Intensität des künstlerischen Erlebnisses hängt natürlich weniger von der Größe
und der öffentlichen Sichtbarkeit, als vielmehr von der Konzentration auf das Kunst-
werk ab. Die Studierstube ist klein und ruhig. Der Zuschauerraum wird verdunkelt,
bevor der Vorhang sich hebt. Wir erschließen uns auch einem Bild und einer
Plastik leichter in einem ruhigen und begrenzten Raum, als in den immer größeren,
von Lärm und Unruhe erfüllten Straßenräumen, wo Reklame und Verkehrszeichen
alle Aufmerksamkeit absorbieren.
Wenn diese Frage der Aufnahmebereitschaft immer gebührend beachtet würde,
wäre vielleicht manches Problem gar nicht entstanden - wie z. B. die Frage, ob
ein neues Fresko in eine alte Bahnhofshalle paßt oder umgekehrt, die alte Bahn-
hofshalle nicht zu einem neuen Fresko - vielleicht würden solche Probleme gar
nicht entstehen, wenn man rechtzeitig gefragt hätte, wer zwischen Zug und Hotel,
zwischen Bahn und Autobus zum echten Erlebnis einer Bildvision gestimmt sein
kann. Ein Streichquartett auf dem Bahnsteig, ein Symphoniekonzert auf einer Ver-
kehrsinsel - auf dem Gebiet der bildenden Kunst scheinen wir dabei nichts zu
finden.
Immer noch sind hier die Grenzen zwischen Dekoration und Kunstwerk verwischt.
Aber die natürlichen Grundlagen des Ornamentes, nämlich der in einem Überfluß
an Zeit aus Liebe arbeitende Handwerker einerseits, und die fortwirkende Bei-
deutung alter Symbole andererseits, diese Grundlagen des Ornamentes sind längst
verschwunden; verschwunden in einer Zeit, die gegenüber jeder Dekoration im
täglichen Leben sehr skeptisch geworden ist. Je skeptischer eine Zeit, umso klarer
wird sie unterscheiden wollen zwischen Zweck einerseits und Imagination anderer-
seits - ganz im Sinne jener sarkastischen Bemerkungen von Adolf Loos, der
seiner Bauherrin schon um die jahrhundertwende empfohlen hat, sich gut zu über-
legen, 0b sie eine Plastik kaufen wolle oder einen Aschenbecher. Adolf Loos, der
heute, an diesem Tage, 90 Jahre alt geworden wäre, hat die Grenzen zwischen
Dekoration und Kunst in einer Klarheit abgesteckt, für die wir ihm alle dankbar
sein sollten. Was wir heute brauchen, ist weniger der Schmuck, als das Erlebnis;
weniger die Bereicherung, als die Vertiefung.
Diese Zeit, die Loos vorausgefühlt und eingeleitet hat, diese Zeit ohne natürliche
Grundlagen für Ornamente und voller Skepsis gegenüber Dekorationen für das
tägliche Leben, diese Zeit wird - in seinem Sinne - immer deutlicher unterschei-
den wollen zwischen den beiden Möglichkeiten: dem Kunstwerk als einer von jeder
Bindung freien Offenbarung der künstlerischen Persönlichkeit einerseits und an-
dererseits der zweiten Möglichkeit der Mitformung und Mitgestaltung eines Raumes
durch Farbe und Form von Anfang an, wobei Farbe und Forminichts anderes
sein können, als höchst diszipliniert eingefügte, selbstlos dienende Teile des Bau-
und Raumgedankens - eine Einheit, die ohne Zwang nur auf Grund eines für
alle Zeitgenossen allgemein gültigen Formempfindens entstehen kann, eines Stiles
unserer Zeit, der sich eben erst entwickelt.
Um bei der ersten, heute zweifellos primären Frage des freien künstlerischen
Erlebnisses zu bleiben: wie wird in dem stark wechselnden Rhythmus eines von
Unruhe, Sensationen und damit Ablenkungen aller Art erfüllten Lebens für eine
möglichst große Zahl von Menschen ein intensives, konzentriertes Erlebnis bilden-
der Kunst möglich? Wie, wo und wann werden sie im wechselvollen Ablauf des
Tages für ein Kunstwerk empfänglich sein?
Müssen wir nicht doch zuerst daran glauben, daß der persönliche Bezirk, die eigenen
vier Wände immer noch die beste Umwelt für eine Stunde der Besinnung sein könn-
ten, neben all jenen übrigen gemeinsamen öffentlichen Räumen und Gebäuden,
die der Konzentration dienen sollen.
In dieer Hinsicht gehen wahrscheinlich alle jene vielen heutigen Bemühungen, gute
Bilder einer breiten Schichte zu zeigen, in den Schulen Originale lebender Maler