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Volltext: Alte und Moderne Kunst VI (1961 / Heft 43)

Gewiß kann es als Vorteil dieser Situation in einer von Abbildern überfluteten Welt 
gewertet werden, daß hier auch dem Naivsten klar geworden sein muß, dafS die 
Aufgabe bildender Kunst in einer solchen Zeit nicht mehr das Abbilden, sondern 
nur die schöpferische Gestaltung sein kann. 
Aber welche Konsequenzen haben wir daraus gezogen? 
Man wird es gewiß als eines der erfreulichen Zeichen eines hohen Verantwor- 
tungsbewußtseins gegenüber bildender Kunst werten, wenn die zuständigen Stellen 
sich dazu verpflichtet haben, einen gewissen festen Prozentsatz ihrer Ausgaben für 
öffentliche Gebäude auch für Wandbilder und Plastiken an diesen Gebäuden aus- 
zugeben - sie dokumentieren damit ihren Glauben an die Aufgabe der bildenden 
Kunst, und dafür muß man ihnen dankbar sein. Auf dieser Grundlage besitzen 
wir eine früher in solcher Menge kaum dagewesene öffentliche Präsentation an 
Wandbildern und Plastiken. Wie kann sich aber die Ausstrahlung, die Intensität 
der Bildcrlebnisse, ihre eigentliche Wirksamkeit noch steigern, ihre Geltung im 
Geistesleben größer werden? 
Die Intensität des künstlerischen Erlebnisses hängt natürlich weniger von der Größe 
und der öffentlichen Sichtbarkeit, als vielmehr von der Konzentration auf das Kunst- 
werk ab. Die Studierstube ist klein und ruhig. Der Zuschauerraum wird verdunkelt, 
bevor der Vorhang sich hebt. Wir erschließen uns auch einem Bild und einer 
Plastik leichter in einem ruhigen und begrenzten Raum, als in den immer größeren, 
von Lärm und Unruhe erfüllten Straßenräumen, wo Reklame und Verkehrszeichen 
alle Aufmerksamkeit absorbieren. 
Wenn diese Frage der Aufnahmebereitschaft immer gebührend beachtet würde, 
wäre vielleicht manches Problem gar nicht entstanden - wie z. B. die Frage, ob 
ein neues Fresko in eine alte Bahnhofshalle paßt oder umgekehrt, die alte Bahn- 
hofshalle nicht zu einem neuen Fresko - vielleicht würden solche Probleme gar 
nicht entstehen, wenn man rechtzeitig gefragt hätte, wer zwischen Zug und Hotel, 
zwischen Bahn und Autobus zum echten Erlebnis einer Bildvision gestimmt sein 
kann. Ein Streichquartett auf dem Bahnsteig, ein Symphoniekonzert auf einer Ver- 
kehrsinsel - auf dem Gebiet der bildenden Kunst scheinen wir dabei nichts zu 
finden. 
Immer noch sind hier die Grenzen zwischen Dekoration und Kunstwerk verwischt. 
Aber die natürlichen Grundlagen des Ornamentes, nämlich der in einem Überfluß 
an Zeit aus Liebe arbeitende Handwerker einerseits, und die fortwirkende Bei- 
deutung alter Symbole andererseits, diese Grundlagen des Ornamentes sind längst 
verschwunden; verschwunden in einer Zeit, die gegenüber jeder Dekoration im 
täglichen Leben sehr skeptisch geworden ist. Je skeptischer eine Zeit, umso klarer 
wird sie unterscheiden wollen zwischen Zweck einerseits und Imagination anderer- 
seits - ganz im Sinne jener sarkastischen Bemerkungen von Adolf Loos, der 
seiner Bauherrin schon um die jahrhundertwende empfohlen hat, sich gut zu über- 
legen, 0b sie eine Plastik kaufen wolle oder einen Aschenbecher. Adolf Loos, der 
heute, an diesem Tage, 90 Jahre alt geworden wäre, hat die Grenzen zwischen 
Dekoration und Kunst in einer Klarheit abgesteckt, für die wir ihm alle dankbar 
sein sollten. Was wir heute brauchen, ist weniger der Schmuck, als das Erlebnis; 
weniger die Bereicherung, als die Vertiefung. 
Diese Zeit, die Loos vorausgefühlt und eingeleitet hat, diese Zeit ohne natürliche 
Grundlagen für Ornamente und voller Skepsis gegenüber Dekorationen für das 
tägliche Leben, diese Zeit wird - in seinem Sinne - immer deutlicher unterschei- 
den wollen zwischen den beiden Möglichkeiten: dem Kunstwerk als einer von jeder 
Bindung freien Offenbarung der künstlerischen Persönlichkeit einerseits und an- 
dererseits der zweiten Möglichkeit der Mitformung und Mitgestaltung eines Raumes 
durch Farbe und Form von Anfang an, wobei Farbe und Forminichts anderes 
sein können, als höchst diszipliniert eingefügte, selbstlos dienende Teile des Bau- 
und Raumgedankens - eine Einheit, die ohne Zwang nur auf Grund eines für 
alle Zeitgenossen allgemein gültigen Formempfindens entstehen kann, eines Stiles 
unserer Zeit, der sich eben erst entwickelt. 
Um bei der ersten, heute zweifellos primären Frage des freien künstlerischen 
Erlebnisses zu bleiben: wie wird in dem stark wechselnden Rhythmus eines von 
Unruhe, Sensationen und damit Ablenkungen aller Art erfüllten Lebens für eine 
möglichst große Zahl von Menschen ein intensives, konzentriertes Erlebnis bilden- 
der Kunst möglich? Wie, wo und wann werden sie im wechselvollen Ablauf des 
Tages für ein Kunstwerk empfänglich sein? 
Müssen wir nicht doch zuerst daran glauben, daß der persönliche Bezirk, die eigenen 
vier Wände immer noch die beste Umwelt für eine Stunde der Besinnung sein könn- 
ten, neben all jenen übrigen gemeinsamen öffentlichen Räumen und Gebäuden, 
die der Konzentration dienen sollen. 
In dieer Hinsicht gehen wahrscheinlich alle jene vielen heutigen Bemühungen, gute 
Bilder einer breiten Schichte zu zeigen, in den Schulen Originale lebender Maler
	        
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