Farbe und Form seit jeher wichtige Medien des unmittelbaren Ausdruckes, einer
unkonventionellen Sprache der Phantasie und des Gefühls. Diese Möglichkeit des
Ausdruckes und damit der Befreiung von Eindrücken, Erlebnissen und Krisen ist
insbesondere für die Jugend, aber auch für Erwachsene seelisch unendlich wichtig,
und würde den Psychiatern manche Arbeit sparen.
Vor allem ist schöpferischer, selbständiger Umgang mit den Gestaltungsmitteln
der bildenden Kunst zur Entfaltung des persönlichen Vorstellungsver-
mögens von der größten Bedeutung und daher nicht entbehrlich:
Unsere Kindergärtner sind sich dessen bewußt und geben den Kleinkindern ]cncs
einfache, abstrakte Spielzeug in dic lland, das zum Kombinieren, zum Phanta-
sieren, zur selbständigen Vorstellung und damit zum Denken anregt - denn
Erkenntnis ist ohne Vorstellung nicht denkbar.
Deshalb ist selbstverständlich die Weiterführung solcher Erziehung zum selbstän-
digen Denken, die Schulung der Vorstellungskraft im späteren Alter genauso wich-
tig wie die Vermittlung von Wissensstoff und seiner Wiedergabe als Bildung und
Gedächtnisschulung. Vielleicht wird unsere Bildung in letzter Zeit zu einseitig vom
fertigen Gedächtnisstoff beherrscht. Das führt besonders in einer Zeit, die alle
Menschen unaufhörlich auch mit fertigen Abbildern überschüttet, nicht zum selb-
ständigen Denken, nicht zu persönlichen Vorstellungen, weil nirgends mehr Raum
bleibt zur Betätigung der eigenen Phantasie, des eigenen Vorstellungsvermögens.
So müssen gerade jene Fähigkeiten unentwickelt bleiben, die Schopenhauer für
nötig hält, um ein Kunstwerk zu erleben.
Aber da wir das Kunsterlebnis nicht um seiner Selbst willen wollen, müssen wir
schließlich fragen, was die Verkümmerung der Phantasie den Menschen im übrigen
nützen oder schaden kann. Und damit sind wir bei der entscheidenden Frage an-
gelangt:
Was bedeutet es, wenn die Fähigkeit zur Bildung eigener, persönlicher Vorstellun-
gen, eigener „Anschauungen", wie es so bezeichnend heißt, die Voraussetzungen
eines eigenen „Weltbildes" im wörtlichen Sinne, degenerieren, und wenn an ihre
Stelle die kritiklose Übernahme vorfabrizierter, mechanisch hergestellter und all-
seits verbreiteter Abbilder tritt - wenn das Klischee die Herrschaft"
a n t r i t t.
Da wissen wir zunächst, daß durch Mechanisierung und Automatisierung zwar die
materielle Produktion fast unbegrenzt gesteigert werden kann, daß dagegen aber
jene menschlichen Fähigkeiten, die zur Beherrschung und Steuerung solcher Pro-
duktion nötig sind, sich keineswegs ebenso vermehren lassen, ja, im Gegenteil
absinken, wie wir gesehen haben. Darin liegt bekanntlich ein Hauptproblem unse-
rer Zeit. „Je weiter die Zivilisation fortschreitet, umso verwickelter und schwie-
riger wird sie. Die Probleme, die sie heute aufgibt, sind höchst verzweckt. Immer
kleiner wird die Zahl der Menschen, deren Geist auf der Höhe solcher Aufgaben
ist. Nicht, daß Mittel zur Lösung fehlten; es fehlen Köpfe. Dies Mißverhaltnis
zwischen der Subtilität der Probleme und der Intclligenzen wird, wenn man nicht
Abhilfe schafft, ständig zunehmen." „Hier rühren wir an die tiefste Tragik der
Zivilisation", sagt mit Recht Ortega y Gassetg.
Was würde es aber schließlich und nicht zuletzt für die Entwicklung des Staates
bedeuten, wenn phantasielose Bürger nicht mehr in der Lage wären, selbständig
zu denken, sondern wenn all ihre Vorstellungen mehr und mehr dem Klischee ver-
fallen würden? Für bestimmte Regierungsformen mag eine solche Situation aller-
dings nicht unerwünscht, ja geradezu eine Voraussetzung sein.
Die Demokratie aber lebt von der selbständigen Mitwirkung ihrer Bürger. Wie
sollen sie zu den Problemen der Gemeinschaft Stellung nehmen, zwischen den
gebotenen Möglichkeiten „wählen" können, wenn sie keine eigenen Vorstellungen
mehr haben.
Wenn die Phantasie der Bürger nicht mehr reicht, sich ganz deutlich vorzustellen,
wie Krieg aussieht, dann werden sie nicht die Kraft haben, sich gegen den Krieg
zur Wehr zu setzen. Wenn sie nicht genug Phantasie haben, um sich vorzustellen,
was hinter den Bildern und Worten steht, die man ihnen vermittelt, dann werden
sie eines Tages - vielleicht schneller als sie glauben - wehrlos dem Apparat
ausgeliefert sein.
Seit jeher, aber ganz besonders in dieser Zeit der Mechanisierung und Automati-
sierung, bedeutet bildende Kunst etwas ganz anderes und viel mehr als nur ein
schönes Beiwerk, etwas ganz anderes und viel mehr als „Wandschmuck" oder „De-
koration" für verschiedene Zwecke und verschiedene Gelegenheiten. Sie ist in Wirk-
lichkeil Ausdruck der wichtigsten und kostbarsten menschlichen Fähigkeiten, ohne
die selbständiges menschliches Denken, ohne die letzten Endes ein menschen-
würdiges Dasein nicht möglich wäre. '
Wenn es auch gewiß richtig sein mag, was behauptet wird: Wissen sei Macht -
so glauben wir doch andererseits auch ganz gewiß zu wissen, daß Kunst
- Leben ist.