Historie und Leben, Geist und Natur, Männliches und
Wcibliches - das sind die Vorstellungsräume, aus denen
die Kunst des 19. jahrhunderts ihre Impulse empfängt.
Immer wieder steht sie vor einer Wegscheide, an der
sich Instinkt und lnmittelbarkeit von Reflexion und
Gelehrsamkeit trennen. Wlenn das llist0r' ehe und das
Lnhistorisehe, nach einem Wort Nietzs ie, gleicher-
maßen für die Gesundheit einer Kultur nötig sind, so
mufl dieser Gedanke, auf die Kunst des 19. Jahrhunderts
abgewandelt, lauten: ohne die Doppelstimmc von llisto-
ric und Leben, ohne die Zwiesprztche des geschichtlichen
Bewußtseins mit den Natur- und Lebensmächten wiire
dieses Jahrhundert zwar leichter zu überschauen, aber
innerlich ärmer und einförmiger. Um cs zu verstehen,
mull man beide Wirkungskriifte im Auge lmhen. Das
bedeutet freilich nicht, daß beide Partner stets in glei-
chem Umfang den schöpferischen Kräftehaushalt be-
streiten. Die Rollen sind ungleich verteilt, das SCltWkTe
gewicht des Vorstellungsvermögens liegt anfänglich beim
historisch-männlichen Welterlebnis, allmählich tibertrii
es sich jedoch vom gliedernden Verstand auf die um-
fassenderen, offenen Horizonte des unmittelbaren llr-
lcbens und der zeitlosen, ewig strömenden Natur fte,
in denen der Mensch ein mächtigeres Lehensgleichnis
als in den Kategorien des Historischen vermutet. 'l'ritnm,
Trieb und Offenbarung nehmen den Künstler zu sich.
Die männliche Welt ist geplant und geordnet, sie setzt
sich aus Institutinnen zusammen, sie besitzt raumgrei-
fendc Erstreckttngen: ihr Schöpfer greift expansiv ins
Unendliche. Kiewrkegaard hat das sehr schön beschrieben:
„Als der Mann geschaffen war, da stand er da als der
Herr und l' st der ganzen Natur; Pracht und (ilanz der
Erde, der ganze Reichtum der Endlichkeit wartete ltloli
auf seinen Wink - aber er verstand nicht, was er aus
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