nicht Haubitzenschüssen, sondern
Anschüssen aus den Leitartikeln des
Gegners widerstehen - aber auch
das ist Kampf, und auch ein solcher
kann, wenn nur genug Leidenschaft
in ihm ist, stilbildend wirken, wie
das Exempel lehrt. Es sei der Hin-
weis auf feinere Parallelen zu Bur-
gen früherer Zeiten erlaubt: so auf
die deutlichen Bestrebungen, jede
größere Gemeindebaueinheit durch
eingeplante Kindergärten, Gemein-
schafts-Nutzräume, Geschäfte und
Parteibüros von der Umgebung un-
abhängig zu machen, was nach 1920
gewiß nicht so auf der Hand lag
wie in unseren Tagen, in denen die
Vorstellung von halb-autarken
Nachbarschaften-Wehnbauten oder
ebensolchen Satellitenkleinstädte
sozusagen eine urbanistische Selbst-
verständlichkeit geworden ist. Und
schließlich sollte man nicht verges-
sen, daß auch die bekannte Glei-
chung „Wohnblock : Wahlblock"
sehr wohl den Gedanken nahelegt,
den Wohnblock besonders mächtig
und wenigstens im propagandisti-
schen Sinn platzbeherrschend zu
machen - wobei wiederum, be-
wußt, unbewußt und am wahr-
scheinlichsten halb und halb-be-
wußt, strategische Gesichtspunkte
ins Spiel kommen (denn auch Wahl-
strategie ist Strategie), die nicht
viel anders auch für die Anlage ei-
nes Sperrforts oder, besser, einer
Stadt-Burg maßgebend gewesen sein
mögen.
Aber Burgen dienen nicht nur dazu,
erkämpfte Gebiete zu sichern und
zu schützen, sie haben immer auch
die Aufgabe, errungene Siege zu
verewigen und Triumphe zu doku-
mentieren, Burgen sind immer auch
Denkmäler. Nicht zu leugnen, daß
die frühen Wiener Gemeindebauten
auch diesen Sinn erfüllen: sie sind
von vornherein als Denkmäler, als
Monumente des Sieges der österrei-
chischen Sozialdemokratie konzi-
piert worden. Das drückt sich schon
in ihren Namen aus, die damals
zweifellos viel provokanter auf dcn
Gegner wirkten als heute, weshalb
sie im Hin und Her des Bürgerkrie-
ges denn auch öfters ausgewechselt
wurden; das zeigt sich, viel bedeut-
samer, in den Bauten selbst, in der
alle Grenzen des Praktischen spren-
genden Großzügigkeit, mit der tri-
umphbogenartige Riesentore reihen-
weise nebeneinander gestellt wur-
den (Karl Marx-Hof), in der fast
barbarischen Freude an ragenden
Fahnentürmen und ähnlichen De-
tails, die den heutigen Gemeinde-
bauten so fremd geworden sind, daß
es einem - aus ästhetischen Grün-
den, versteht sich - fast leid da-
rum tut. Die Bauten der Zwanziger-
jahre waren eben von einem Pathos
erfüllt, das den heutigen Beamten-
Architekturen völlig mangelt, vom
Pathos des Sicges und einer bruta-
len Absage an die Vergangenheit,
an die Zeiten des monarchischen
oder bürgerlichen, des individuellen
Bauens. Aber damit wiederum be-
hielten auch die Befürworter recht
bis zum heutigenXTage: was sie
bauten, war und ist wirklich eine
neue Architektur, mußte es sein,
weil es, um ein stilgerechtes Wort
zu brauchen, dialektisch erforder-
lich war, neu, d. h. grundsätzlich
anders als bis dahin zu bauen. Das
Phantastische ist daher ein sehr we-
sentliches Stilmittel des lrühen Ge-
meindehaus. Es wird in der Freude
an der übergroßen Dimension sicht-
bar, im oft skurrilen Zierat und
nicht zuletzt an der last bühnen-
bildartigen Wirkung mancher Bau-
ten. Wenn jemals utopische Archi-
tektur gebaut worden ist, dann hier
und damals.
Utopische Architektur - ja, das ist
das richtige Wort. Alles das, was
die französischen Revolutionsar-
chitekten, die Träumer des jugend-
stils, die russischen Vertreter einer
„präligurierten" und „p0litisehen"
Architektur planten und nicht aus-
führen durften, ist in den expressio-
nistischen und kubistischen Wiener
Gemeinclebauten der Zwanzigerjah-
re verwirklicht worden, ohne daß
diese doch eigentlich sensationelle
Tatsache bis heute in das Bewußt-
sein der Kunst- und Baugesehiehts-
schreiber gedrungen wäre.
Charakteristisch zum Beispiel, daß
in dem jüngst erschienenen, ebenso
anregenden wie teuren Werk „Phan-
tastische Architektur" (Ulrich (Ion-
rads und Hans G. Sperlich, Arthur
Niggli-Verlag, Schweiz, sFr. 39,50)
zwar die französischen und russi-
schen Revolutionsbaumeister aus-
führlich kommentiert werden und
der Mangel an realisierten espres-
sionistischen Architekturen beklagt,
der Wiener Gemeindebauten aber
mit keinem Wort Erwähnung getan
wird. Verwunderlich ist das freilich
nicht - es gibt eben noch keine
neuere, wissenschaftlich ernst zu
nehmende Monographie über dieses
Thema und noch nicht einmal einen
Bildband darüber. Das Städtische
Wiener Kulturamt oder das Bil-
dungsreferat des Gewerkschafts-
bundes oder ähnliche eigentlich an
dem Thema interessiert sein sol-
lende Stellen könnten wirklich ein-
mal... naja, aber auf diese Idee soll-
ten sie schon selbst kommen . . .
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