Die veränderliche Sehweise vor cler landschali
KRIST
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Die Malerei ist jcnc Ausdrucksform,
in der jedc neue Art, die Welt zu
begrcifen und in einen höheren Zu-
sammenhang zu bringen, die Summe
veränderter soziologischer, ge-
schichtlicher und naturwissen-
schaftlicher Voraussetzungen zu
- seit der Entdeckung des Irdi-
schen, des isolierbaren Ganzen, des
Dings, der Umwelt, der Erde -
wechselnde Betrachtungsweise der
Landschaft, das Empfinden vor und
das Entdecken neuer Teile in ihr
durch den Künstler beeinflußt oder
terlandschaften von Jakob Ruysdael,
den Sonnenuntergang Altdorfers.
Würden wir diese Landschaften so
sehen, würden wir sie vor der Natur
wiedererkennen, wären sie nicht zu
irgend einem Zeitpunkt gemalt
worden? Und ist es nicht auch ly-
ziehen, ihre früheste Ausprägung
zu finden pflegt. Der Maler schafft
mehr noch als der Dichter aus sei-
ner Zeit heraus, der er mit allen
Fasern seines Seins verhaftet ist.
„Ich urteile", sagt Leornardo da
Vinci, „die Malerei sei über der
Poesie, denn die Malerei stellt die
Werke der Natur mit mehr Wahr-
heit dar als die Dichter." Gelegent-
lich begegnet man der Behauptung,
ein Künstler sei seiner Zeit voraus,
was aber nicht richtig ist: vielmehr
hinken ihr seine Zeitgenossen nach;
sie lernen erst später, und nicht zu-
letzt durch ihn, so zu sehen, wie er
es tat. „Es ist paradox", sagt Oscar
Wilde, „aber darum nicht minder
wahr, daß das Leben die Kunst weit
mehr nachahmt als die Kunst das
Leben." Ilier soll angedeutet wer-
den, wie die in allen Jahrhunderten
doch zuerst von ihm bezeugt wurde.
Wie und wann ein Landschaftsaus-
schnitt und in welchem Natura
Zusammenhang er gesehen wird,
welche Bedeutung und welchen
Stimmungsgehalt der Maler diesem
Teil eines Weltausschnitts unter-
legt, ist mit der sich fortlaufend
rationaler und realistischer ent-
wickelnden Geistesgeschichte vom
Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert
eng verknüpft und von ihr abhän-
gig. Aber es ist noch heute möglich,
eineBrueghel-oderTurnerlandschaft
zu sehen, lang, nachdem sie gemalt
worden ist. Wir sehen perlmutter-
iarbene Marquets, kalte, unermeß-
liche, die Unendlichkeit mit einbe-
ziehende Caspar David Friedrichs.
einen tiefblauen, bewegten Sommer-
himmcl mit den schönen, weißen,
wandernden Wolken Sisleys, Win-
pisch für unsere Zeit, die keine
wirkliche, in der Natur wiederzu-
entdeckende gemalte Landschaft
mehr kennt, außer der transzen-
dierten „abstrakten" Allandschaft,
daß wir uns im Beschreiben von
Nnturbildern und -eindrücken auf
Zeugnisse vergangener Jahrhun-
derte stützen, uns ihrer Bilder er-
innern? Auch der Künstler kann
sich vom Gesehenen, Vorgebildetcn
nicht freimachen, seine Sehweise
wird von Anfang an durch Bilder
von Malern, die ihm vorausgingen,
bestimmt. Sehen, sagt Mnlraux,
bedeutet für uns heute: sich etwas
in der Form eines Kunstwerks vor-
stellen. Die Form des Wirklichen
verbindet sich mit einer bereits vor-
geprägten.
Zunächst begegnet uns die Land-
schaft nach den pompejnnischen