individuell-psych0l0gischen Entwicklung stand, ist ein
Schritt in ein Neuland, der ihm selbst in seiner unge-
heuren Bedeutung wohl bewußt war:
„Ich möchte den Raum und die Zeit malen, damit sie
Formen würden der Farbempfindlichleeit; denn ich stelle
mir manchmal die Farben als Nouomena, leibhaftige
Ideen, als [Wesen reiner Vernunft vor, mit denen wir in
Verbindung stehen. Die Natur ist nicht an der Ober-
fläche, sie ist in der Tiefe und ihr Ausdruck an der
Oberfläche sind die Farben. Sie steigen von den Wurzeln
der Welt auf."
An diese „Wurzeln der Welt" zu gelangen, ist das Stre-
ben Cezannes. Er setzt sich über alles Unwesentliche,
hinweg, ja er verläßt sogar den seit der Renaissance un-
bestrittenen strukturellen Halt jedes Bildes: die wissen-
schaftliche Perspektive. Er verzichtet auf einen wirk-
lichen Fluchtpunkt, verändert scheinbar willkürlich
Schräge und Kurven und erreicht mit all diesen Redu-
zierungen eine enge Beziehung der Dinge untereinander,
in einer rätselhaften Harmonie, die nichts Willkürliches,
sondern das einem unsichtbaren Gesetz gehorchende ge-
heime Wirken in der Natur offenbart. Wenn er in seinen
späten Aquarellen auch die leere Fläche für die Dar-
stellung heranzieht und die Gegenstände nur mehr mit
wenigen Farbstrichen, wie aus einem Nebel auftauchen
läßt, so ist dieser „Nebel" nicht Atmosphäre, nicht luft-
crfüllter Raum, sondern ein vom Künstler wieder herauf-
bcschworener geistiger Urzustand einer noch im Ent-
stehen begriffenen Welt. Einen entfernten Vergleich
hiezu bietet die ostasiatische Malerei, wo das Schemen-
hafte der wirklichen Welt auch aus der Leere auftaucht,
doch ist es dort eine Verneinung des greifbar realen
Daseins, hei Ctizanne aber die Harmonie des Kosmos und
der Realität. („Mir scheint, daß ich das subjektive Be-
wußtsein dieser Landschaft wäre und meine Leinwand
das objektive Bewußisein . . .")
Der Schritt vom subjektiven ins Obcjktive ist die große
Tat Cezannes. Das zeigt sich besonders in seiner Porträt-
darstellung. Auch hier geht es ihm in keiner Weise um
eine gefühlsmäßige Wiedergabe, um menschliche psycho-
logische Feinheiten, obwohl er schreibt: „]eder Pinsel-
strich, den ich aufsetze, ist gleichsam etwas von meinem
Blut, vermengt mit dem Blut meines Modells, in der
Sonne, in dem Licht, in der Farbe. [Wir müssen im glei-
chen Takt leben, mein Modell, meine Farbe und ich."
Seine Gesichter haben sogar oft etwas geradezu Masken-
haftes, die Gewänder sind nur angedeutet, als wären,
sie aus einem unwirklichen Material gemacht. In allem
und jedem eine unerbittliche Größe, die alles, was zeit-
und gefühlsbedingt ist, ablehnt, um zur Echtheit, zur
Wahrheit vorzudringen, der bis zur letzten Aufopferung
zu dienen, in den Augen Cezannes die wahre Aufgabe des
Künstlers ist. („...Es darf keine einzige lockere Ma-
sche geben, kein Loch, durch das die [Wahrheit ent-
schlüpft.")
Diesem Ziel hat Cezanne sein Leben geweiht; er malt wie
einer, der von göttlicher Gnade erfüllt, jede Sekunde
seines Lebens dieser übermenschlichen Aufgabe widmen
muß. Sein höchster Traum ist „malend zu sterben" -
und er geht in Erfüllung. Im Freien malcnd, wird er von
l Cäzanne, „Badende" Öl auf Leinwand, 1902f3, Sammlung
Feilchenfcldt, Zürich.
2 Ceznnne, Der Mord, Ol auf Leinwand, 1867[70, Galerie Wil-
denstein, New York.
3 Cezannc, Das Chäteau Noir und der Mont St. Vicroire 1895
bis 1900. Wien Albcrtina.
4 "Chäteau Noir" bei Aix, Naturphoto.
5 Cäzanne, Sitzender Bauer, Aquarell, 1900104, Zürich Kunst-
haus.
einem Gewitter überrascht und völlig durchnäßt. Kurz
darnach stirbt er.
Was Cezanne als Neues, Umwälzendes entdeckte, hat in
logischer Folge die weiteren Richtungen der Modernen
Malerei hervorgerufen. Jene Schritte, die er bewußt nie
gegangen ist, hat die nächste Generation getan: seine
Reduktionen führen zur abstrakten Kunst; seine Beto-
nung des Strukturellen zum Kubismus; seine Verände-
rung der Raumvorstellung zur völligen Umwertung des
Bildraums. So kommt dem Phänomen Cezanne nicht nur
künstlerische, sondern auch historische Bedeutung zu wie
anderen großen Bahnbrechern in der Kunst, etwa Giotto
oder Massaccio.
Wenn Goethe sagt, daß alle subjektiven Kunstrichtungen
absteigende Kulturen begleiten, die objektiven aber am
Anfang neuer Epochen stehen, so hat die Kunst Ce-
zannes, wie wir heute längst wissen, das Tor geöffnet für
die Malerei des 20. Jahrhunderts.