BAROCK UND KLASSIZISMUS IM WERK GOYAS
ERIBERT HUTTER
Bemerkungen zu einer Komposition aus den KProverbios"
Die künstlerische Genese einer Komposition ist am Bei-
spiel eines Blattes der sogenannten Proverbios (joyas
besonders gut zu verfolgen, da außer der Vorzeichnung
in Madrid noch zwei Plattenzustände bekannt sind und
das Exemplar der Albertina überdies Bleistiftkorrek-
turen aufweist, so daß vier verschiedene Phasen beob-
achtet werden können. Es handelt sich um die 15. Dar-
stellung der Folge} die Goya selbst „Disparate cluro"
bezeichnet hatte und die ursprünglich an siebenter Stelle
gedacht war?
Der kompositionelle Grundgedanke ist in der Vorzeich-
nung im Pradoß summarisch angedeutet: einer klein-
teilig bewegten, aber geschlossen wirkenden Figuren-
masse, die in dunkler ausgeführten Partien links der
Mitte einen Konzentrationspunkt aufweist, steht die
nach rechts auffahrende, ruhigere, einheitliche Fläche
eines Segeldaches gegenüber. Das in der Platte weiter
ausgeführte Motiv der stützenden Figuren rechts ist
schon angedeutet, der Abschluß der linken Seite ist je-
doch noch unklar und weiß gelassen.
Die Ausführung zeigt im ersten Zustand der Platte4
neben der Differenzierung der Figuren den kompositio-
nellen Schwerpunkt ganz nach links unten verschoben
und gegenständlich mit einem feurigen Abgrund moti-
viert. Bestimmend für das ganze Blatt ist ein Diagonal-
zug von links unten nach rechts oben, der von den
Linienbündeln der Strahlen aus dem verdeckten Abgrund
ausgeht und von der Schattenangabe links oben und
weiter, über die Rauchwolken, von dem Kontur der Men-
schengruppe in der Mitte - und in ihr durch aus-
gestreckte Arme, so besonders durch die des eifernden
„Mönche? rechts der Mitte und der das Velum stützen-
den Männer - bis in die Schraffur des Segeldaches auf-
genommen wird. Ein diesen Hauptstrom der Linienfüh-
rung wirkungsvoll unterstreichender Kontrast wird von
der links hochgeführten Draperie gebildet, der in der
rechten unteren Ecke durch die Figuren zweier Kniendcr
wiederholt und auch in dem Helligkeitswert betont ist.
Goya muß dieses Stadium in einem gewissen Sinn abge-
schlossen betrachtet haben, denn es findet sich in der
rechten unteren Ecke eine, bisher nicht beschriebene.
Signatur in der flüchtigen, am Kopf stehenden und
seitenverkehrten Art, wie sie auch auf Blatt 80 der
Desastres de la Guerra auftritt.
[n das Albertina-Exemplarß dieses Zustandes (Abb. l)
sind nun eine Reihe von Bleistiftkorrekturen eingezeich-
net, die bisher, ohne näher auf ihre Bedeutung für die
Veränderung der Komposition einzugehen, nur erwähnt
worden sind}? Sie zielen im wesentlichen auf eine Dämp-
fung des Hell-Dunkel-Kontrastes und damit auch auf
ein Zurückdrängen des Diagonalstromcs ab: so ist die
Wirkung des Strahlens aus dem Abgrund durch Schraf-
furcn gemindert, in die Helligkeit der Bogenwölbung ist
ein Gitter eingetragen, das aus dem „Brüekenbogef
eine Kerkerwölbung - wie auf den Einzelblättern der
„Gefangenen"" und einigen Darstellungen aus den Ca-
prichosß - macht. Das helle Spatium zwischen der Men-
schengruppe und einer vorgebeugten Figur in der Blatt-
mitte ist geschlossen, der rechts unten kniende Krüppel
ist ebenfalls durch Schraffuren gedämpft und stärkere
Dunkelheiten sind in der Kopfpartic des „Mönehes" mit
den ausgebreiteten Armen und in der Wolke links an-
gegeben.
Die endgültige Ausführung (Abb. 2) berücksichtigt diese
Korrekturen zu einem Teil durch die Aquatinta, oder,
wie bei dem Knienden rechts, durch ein grobmaschiges
Netz von Strichen mit der kalten Nadel. Noch über die
Bleistiftangaben auf dem Albertina-Blatt hinausgehend
und das kompositionelle Gefüge entscheidend verän-
dernd, ist jedoch die Einführung einer neuen Hauptfigur:
der kopfüber stürzcnde Soldat an der Stelle des Ab-
grundes links unten. Trotz der heftigen Bewegtheit und
der schrägen llauptachse des Körpers wird durch das Ge-
wicht des größeren Maßstabes und die tiefere Schwärze
der Nachätzung die dynamische Gerichtetheit der ur-
sprünglichen Diagonalkomposition aufgehoben. Drei
weitere Figuren an Stelle einer Wolke verbinden die
Hauptgruppe, die in der Personenzahl verringert ist, mit
dem Stürzenden und binden so alle Figuren des Vorder-
grundes zu einer kompakteren Masse. Sie bilden jetzt die
Basis einer Pyramide, der das Velum als entgegengerich-
tetes Dreieck antwortet. Ebenso ausgleichend wirkt das
rechtwinkelig abgestreckte rechte Bein des stürzenden
Soldaten, das die der ursprünglichen Hauptrichtung
gegenläufige Diagonale der linken Velumkante ver-
stärkt.
In dieser mehr auf Gleichgewicht und Symmetrie ab-
gestimmten Komposition werden einzelne, unverändert
belasscne Teile automatisch anders gelesen. Sind in der
ersten Fassung der Platte - ganz dem allgemeinen Zug
von links nach rechts oben entsprechend - die in dieser
Richtung geführten Arme der Zelttriiger als wirksam
empfunden worden, so fallen nun die vertikalen Partien
stärker ins Gewicht. Die Zentralfigur des ersten Zustan-
des, der ekstatisch die Arme ausbreitende Mönch, ver-
schmilzt viel mehr mit der ihn umgebenden Menge. Der
große Zug seiner Arme findet keine Fortsetzung und
keinen Widerhall. Aus der exzentrischen, heftigen Ge-
richtetheit der ersten Fassung ist eine nahezu symme-
trische, statische Komposition geworden, aus dem „ba-
rocken" ein „klassizistische? Bild."
Es ist für die Stellung Goyas zwischen diesen beiden
Prinzipien bezeichnend, daß aueh eine gegenläufige Ent-
scheidung - von der statischeren zur dynamischeren
Komposition - für ihn möglich ist, wie es ein Vergleich
von Vorzeichnung und ausgeführter Platte bei „Dispa-
rate ridiculo". Nr. 3 der Folge)" klarlegt. Doch herrscht
vor allem in den späten Werken, zu denen die Folge der
„Proverbios" zählt, der Zug zur ruhigeren, ausgegliche-
neren Komposition - ohne Rücksicht auf die gegen-
ständliche Darstellung, die zu dem Revolutionärsten ge-
hört, was um 1800 geschaffen wurde - vor. Innerhalb
der „Proverbios" ist das am Verhältnis Vorzeichnung-
Platte öfters zu beobachten," für das gesamte Schaffen
Goyas wäre es einer eigenen Untersuchung wert.
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