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Volltext: Alte und Moderne Kunst VI (1961 / Heft 53)

BAROCK UND KLASSIZISMUS IM WERK GOYAS 
ERIBERT HUTTER 
Bemerkungen zu einer Komposition aus den KProverbios" 
Die künstlerische Genese einer Komposition ist am Bei- 
spiel eines Blattes der sogenannten Proverbios (joyas 
besonders gut zu verfolgen, da außer der Vorzeichnung 
in Madrid noch zwei Plattenzustände bekannt sind und 
das Exemplar der Albertina überdies Bleistiftkorrek- 
turen aufweist, so daß vier verschiedene Phasen beob- 
achtet werden können. Es handelt sich um die 15. Dar- 
stellung der Folge} die Goya selbst „Disparate cluro" 
bezeichnet hatte und die ursprünglich an siebenter Stelle 
gedacht war? 
Der kompositionelle Grundgedanke ist in der Vorzeich- 
nung im Pradoß summarisch angedeutet: einer klein- 
teilig bewegten, aber geschlossen wirkenden Figuren- 
masse, die in dunkler ausgeführten Partien links der 
Mitte einen Konzentrationspunkt aufweist, steht die 
nach rechts auffahrende, ruhigere, einheitliche Fläche 
eines Segeldaches gegenüber. Das in der Platte weiter 
ausgeführte Motiv der stützenden Figuren rechts ist 
schon angedeutet, der Abschluß der linken Seite ist je- 
doch noch unklar und weiß gelassen. 
Die Ausführung zeigt im ersten Zustand der Platte4 
neben der Differenzierung der Figuren den kompositio- 
nellen Schwerpunkt ganz nach links unten verschoben 
und gegenständlich mit einem feurigen Abgrund moti- 
viert. Bestimmend für das ganze Blatt ist ein Diagonal- 
zug von links unten nach rechts oben, der von den 
Linienbündeln der Strahlen aus dem verdeckten Abgrund 
ausgeht und von der Schattenangabe links oben und 
weiter, über die Rauchwolken, von dem Kontur der Men- 
schengruppe in der Mitte - und in ihr durch aus- 
gestreckte Arme, so besonders durch die des eifernden 
„Mönche? rechts der Mitte und der das Velum stützen- 
den Männer - bis in die Schraffur des Segeldaches auf- 
genommen wird. Ein diesen Hauptstrom der Linienfüh- 
rung wirkungsvoll unterstreichender Kontrast wird von 
der links hochgeführten Draperie gebildet, der in der 
rechten unteren Ecke durch die Figuren zweier Kniendcr 
wiederholt und auch in dem Helligkeitswert betont ist. 
Goya muß dieses Stadium in einem gewissen Sinn abge- 
schlossen betrachtet haben, denn es findet sich in der 
rechten unteren Ecke eine, bisher nicht beschriebene. 
Signatur in der flüchtigen, am Kopf stehenden und 
seitenverkehrten Art, wie sie auch auf Blatt 80 der 
Desastres de la Guerra auftritt. 
[n das Albertina-Exemplarß dieses Zustandes (Abb. l) 
sind nun eine Reihe von Bleistiftkorrekturen eingezeich- 
net, die bisher, ohne näher auf ihre Bedeutung für die 
Veränderung der Komposition einzugehen, nur erwähnt 
worden sind}? Sie zielen im wesentlichen auf eine Dämp- 
fung des Hell-Dunkel-Kontrastes und damit auch auf 
ein Zurückdrängen des Diagonalstromcs ab: so ist die 
Wirkung des Strahlens aus dem Abgrund durch Schraf- 
furcn gemindert, in die Helligkeit der Bogenwölbung ist 
ein Gitter eingetragen, das aus dem „Brüekenbogef 
eine Kerkerwölbung - wie auf den Einzelblättern der 
„Gefangenen"" und einigen Darstellungen aus den Ca- 
prichosß - macht. Das helle Spatium zwischen der Men- 
schengruppe und einer vorgebeugten Figur in der Blatt- 
mitte ist geschlossen, der rechts unten kniende Krüppel 
ist ebenfalls durch Schraffuren gedämpft und stärkere 
Dunkelheiten sind in der Kopfpartic des „Mönehes" mit 
den ausgebreiteten Armen und in der Wolke links an- 
gegeben. 
Die endgültige Ausführung (Abb. 2) berücksichtigt diese 
Korrekturen zu einem Teil durch die Aquatinta, oder, 
wie bei dem Knienden rechts, durch ein grobmaschiges 
Netz von Strichen mit der kalten Nadel. Noch über die 
Bleistiftangaben auf dem Albertina-Blatt hinausgehend 
und das kompositionelle Gefüge entscheidend verän- 
dernd, ist jedoch die Einführung einer neuen Hauptfigur: 
der kopfüber stürzcnde Soldat an der Stelle des Ab- 
grundes links unten. Trotz der heftigen Bewegtheit und 
der schrägen llauptachse des Körpers wird durch das Ge- 
wicht des größeren Maßstabes und die tiefere Schwärze 
der Nachätzung die dynamische Gerichtetheit der ur- 
sprünglichen Diagonalkomposition aufgehoben. Drei 
weitere Figuren an Stelle einer Wolke verbinden die 
Hauptgruppe, die in der Personenzahl verringert ist, mit 
dem Stürzenden und binden so alle Figuren des Vorder- 
grundes zu einer kompakteren Masse. Sie bilden jetzt die 
Basis einer Pyramide, der das Velum als entgegengerich- 
tetes Dreieck antwortet. Ebenso ausgleichend wirkt das 
rechtwinkelig abgestreckte rechte Bein des stürzenden 
Soldaten, das die der ursprünglichen Hauptrichtung 
gegenläufige Diagonale der linken Velumkante ver- 
stärkt. 
In dieser mehr auf Gleichgewicht und Symmetrie ab- 
gestimmten Komposition werden einzelne, unverändert 
belasscne Teile automatisch anders gelesen. Sind in der 
ersten Fassung der Platte - ganz dem allgemeinen Zug 
von links nach rechts oben entsprechend - die in dieser 
Richtung geführten Arme der Zelttriiger als wirksam 
empfunden worden, so fallen nun die vertikalen Partien 
stärker ins Gewicht. Die Zentralfigur des ersten Zustan- 
des, der ekstatisch die Arme ausbreitende Mönch, ver- 
schmilzt viel mehr mit der ihn umgebenden Menge. Der 
große Zug seiner Arme findet keine Fortsetzung und 
keinen Widerhall. Aus der exzentrischen, heftigen Ge- 
richtetheit der ersten Fassung ist eine nahezu symme- 
trische, statische Komposition geworden, aus dem „ba- 
rocken" ein „klassizistische? Bild." 
Es ist für die Stellung Goyas zwischen diesen beiden 
Prinzipien bezeichnend, daß aueh eine gegenläufige Ent- 
scheidung - von der statischeren zur dynamischeren 
Komposition - für ihn möglich ist, wie es ein Vergleich 
von Vorzeichnung und ausgeführter Platte bei „Dispa- 
rate ridiculo". Nr. 3 der Folge)" klarlegt. Doch herrscht 
vor allem in den späten Werken, zu denen die Folge der 
„Proverbios" zählt, der Zug zur ruhigeren, ausgegliche- 
neren Komposition - ohne Rücksicht auf die gegen- 
ständliche Darstellung, die zu dem Revolutionärsten ge- 
hört, was um 1800 geschaffen wurde - vor. Innerhalb 
der „Proverbios" ist das am Verhältnis Vorzeichnung- 
Platte öfters zu beobachten," für das gesamte Schaffen 
Goyas wäre es einer eigenen Untersuchung wert. 
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