Kunst hat bei der Schöpfung von
Gebrauehsgegenständen schon im-
mer eine Rolle gespielt. Aber sie
äußerte sich früher mehr in dem
künstlerischen Ehrgeiz des Hand-
werkers, etwa eine Schüssel genau
so schön wie handlich zu machen.
In höherentwickelten Gesellschaf-
ten kam das Moment der „Kunst
um der Kunst willen" hinzu. Ein
Tisch zum Beispiel wurde lieber ge-
kauft, wenn er mit lntarsien ver-
sehen war.
Auch heute spielt die künstlerische
Gestaltung als Verkaufsanreiz eine
Rolle. Aber sie hat darüber hinaus
einen viel tieferen Grund. Wir ha-
ben nämlich erkannt, daß wir in
unserer nüchternen Zeit nur über
den Umweg der Kunst mit unseren
Maschinen auf freundschaftlichem
Fuße zu leben vermögen.
Ob Ölraffinerie, Elektronengehirn
oder Werkzeugmaschine - sie alle
bedürfen der Kunst, und es ist be-
zeichnend, daß die Kunst - einst
als luxuriös, aber unnötig angese-
hen - heute nicht nur als „Zugabe"
ihren Einzug in die Fabriken hält,
sondern als notwendige Voraus-
setzung geradezu gefordert wird.
Viele der schönsten Industrieformen
von heute wirken deshalb schön auf
uns, weil sich die Form zwar dem-
Zweck anpaßt, der Zweck aber
nicht die Form diktiert. So gilt z. B.
das Flugzeug als klassisches Beispiel
der rein funktionellen Form. Doch
versichern Aerodynamiker und Kon-
strukteure, daß es eine ziemlich
weite Formenskala für den Entwurf
von gleichbleibend flugtüchtigen
Flugzeugen gibt. Das Flugzeug hat
aber nicht nur wegen seiner Funk-
tion diese oder jene Form. Maß-
gcl-icnd sind auch Material und an-
dere Faktoren seiner Konstruktion.
Die alte Vorschrift, wonach die
Form dem Zweck zu folgen habe,
wurde daher revidiert und heißt
heute: „Die Form folgt dem Zweck
nur so weit, wie der Konstrukteuer
es für gut hält." Betrachten wir bei-
spielsweise eine elektrische Bohr-
maschine, zu deren Antrieb der
gleiche Motor verwendet wird, der
auch andere Geräte antreibt. Der
Motor verändert seine Form nicht.
wohl aber das Gehäuse. Ihm muß
sowohl vom Künstlerischen als auch
vom Funktionellen her Rechnung
getragen werden.
Selbstverständlich ist es nach wie
vor notwendig, die Kunst auch wei-
terhin als einen gewissen Verkaufs-
anreiz in die Kalkulation mit ein-
zubeziehen. Das geschieht vor allem
durch immer neue liormgebung
eines Artikels. Ein gutes Beispiel
für den ständigen, aber keineswegs
immer ästhetisch bedingten Wech-
sel der Form ist das amerikanische
Automobil. Praktisch erscheint es
jedes Jahr iin neuem Gewande; aber
nicht deshalb, weil neue Ideen die
Karosseriekonstrukteure dazu zwin-
gen, sondern um den Verkauf zu
steigern. Die gleiche oftmaligc Um-
gestaltung u.m der Marktbelebung
willen findet man vielfach bei
Elektrogeräten.
Die erfolgreichsten und schönsten
lndustrieformen sind gewöhnlich
solche, in denen sich Funktionelles,
Kommerzielles und schöne Form
harmonisch verbinden. Deshalb fin-
den wir unsere besten Formen auch
immer wieder bei hochqualifizier-
ten Präzisions- und Spezialinstru-
menten. Und hier ist der Punkt, an
dem die Kunst ihren mächtigsten
Einfluß auf die Technik und die
Technik ihren mächtigsten Einfluß
auf die Kunst ausüht. Wich-
tig an der modernen Formgebung
sind Einfachheit und Zweckmäßig-
keit. Der Kunstkriliker Sheldon
Cheney sagte einmal: „Die Ma-
schinen in einem Kraftwerk strah-
len eine Faszination der Form und
der Linie aus, die jeder, der etwas
von Kunst versteht, fühlen muß."
Viele Wirkungen der modernen
Kunst wären ohne das Material, das
die Technik geschaffen hat, genau-
so wenig möglich wie die Wirkuna
gen der modernen Architektur und
der Industrieformen ohne die Ex-
perimente der modernen Kunst.
Doch trotz aller Wechselwirkungen,
die Kunst und Industrie aufeinander
ausüben, besteht ein großer Unter-
schied zwischen dem Malen eines
Bildes und der Herstellung eines
Stuhls als Massenartikel. Dennoch
können wir getrost einen Blick auf
die Plastik-, Holz- oder Metall-
stühle eines Formschöpfers wie
Charles Eames werfen, und wir
werden feststellen, wie nahe ver-
wandt die schönen Künste mit der
lndustriekunst sind. Wir dürfen die
Technik heute nicht einfach nur
tolerieren - wir müssen uns ihrer
freuen können.
Ralph (Japlan ist Redakteur der in New York. erxcbeinenrlen Zeitschrift
„Industrial Design"
an