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Volltext: Alte und Moderne Kunst VI (1961 / Heft 53)

5 Sterzinger Madonna, 1. Hälfte des 
14. Jahrhunderts, Peter und Paul-Kirche. 
ß Heimsuchung, Pollingcr Meister 1439, 
Kremsmünster. 
Schwalbe, während Raffael den 
Stieglitz noch in das 16. jahrhun- 
dert weiter-trägt. Michele Giambo 
läßt das jesuskind auf einen Stieg- 
litz herabschauen." In München 
(Alle Pinakothek) blickt auf der Ta- 
fel eines Salzburger Meisters das 
Kind mit ernstem Ausdruck auf den 
Betrachter. In Nürnberg (Germ. Na- 
tionalmuseum) haben wir allein bei 
Burgkmair das Thema noch im 
16. Jahrhundert zweimal, eberßo in 
Toulouse ein italienisches Beispiel, 
in Innsbruck bringt der Habsburger- 
meister eine Erweiterung auf eine 
Annaselbdritt, dort hält das Kind- 
lein einen bläuliehgeliederten Vo- 
gel in Händen. Eine Darstellung in 
Spanien, im Dom zu Tudela, reicht 
noch ins 17. Jahrhundert herauf. 
Das Rheinland bietet uns in Aachen 
ein Beispiel aus dem zweiten Vier- 
tel des 15. Jahrhunderts. Burgundi- 
sehe Beispiele weist der Louvre aul. 
Eine Mainzer Gruppe spricht für 
das 16. Jahrhundert, wobei das Kind 
schon zwischen Vogel und Wein- 
traube gestellt wird. Würzburg zeigt 
die Gruppe plastisch in Alabaster 
um 1380 - ohne Blickversenkung. 
Auch in den böhmischen Kunst- 
bereich dringt das Thema um 1400 
ein. Erwähnen wir noch den Meister 
von llallgarten (Frankfurt a. Main) 
und erinnern wir an das herrliche 
Stück französischer Provenienz im 
Louvre, so ergibt sich ein Überblick 
last über das gesamte römische 
Christentum. 
Bevor wir auf den „Stieglitz" ein- 
gehen, wollen wir dem Weintrau- 
benthema noch die ihm gebührende 
Beachtung schenken. Das Kind mit 
Apfel und Birne hat zweifellos eine 
größere Verbreitung erlangt, als das 
Kind mit dem Vogel. Man hat dabei 
vom „Entwöhnungsmotiv" gespro- 
chen. Richtiger wäre es schon, vom 
Apfel der neuen Eva zu sprechen. 
Das Weintraubensymbol stellt außer 
Zweifel neuerlich eine Verbindung 
mit dem mystischen Kelterthema 
und damitmit der Passion herf" 
Aus unserem vorgelegten Material, 
das wir auswahlweise bringen, geht 
hervor, daß das hohe geistige Bild 
der mystischen Schau nur kurz ge- 
währt hat und daß die bürgerlich- 
bäuerliche Frömmigkeit der späte- 
ren Gotik in Bayern wie in Italien 
den Stieglitz besonders in den Vor- 
dergrund stellt. Nicht nur wegen 
seiner schönen Farben, sondern weil 
man in diesem Vogel nun nicht 
mehr die zu erlösende Seele ver- 
steht, sondern nun ein Bild für das 
Christkind selbst, „weil er sich so 
bescheiden von Disteln nährt, und 
doch so schön singnm Erst von die- 
ser Voraussetzung aus läßt sich eine 
Tafel (Bild 6), wie die des Pollin- 
ger Meisters in der Marienkapelle 
Kremsmünster richtig verstehen. 
Wir sehen Maria und Elisabeth bei 
ihrem Gang übers Gebirge zwischen 
romantischem Gefelse und zwischen 
ihnen einen übergroßen Stieglitz 
sitzen, der uns sagt, daß Jesus da 
ist, wenn auch nur durch ihn, den 
stellvertretenden Stieglitz, sichtbar. 
Auf der bekannten Tafel des Schot- 
tenmeisters begegnet uns neuerlich 
ein sitzender Distelfink, er unter- 
streicht symbolisch die Anwesenheit 
Christi bei der Flucht? Dort und 
da sehen wir auch drei Vögel - 
sind es Schwalben, haben wir sie als 
Marienvögcl zu verstehen, so wie 
sie einst Freya begleiteten. Wir cr- 
innern an die Epiphanie Pfennings 
in Amsterdamßa Auf der reizvol- 
len Geburtsszene, die von Krems- 
münster nach Wien kam und um 
1410 entstanden sein mag, finden 
wir Vögel, ebenso bei Reichlichs 
Epiphanie in der Wiltener Stifuskir- 
che,9' desgleichen bei Jakob Sunters 
Dreikönigsszene im Wiener Kunst- 
historischen Museumß 
Bei der „Flucht" von Baldung Grien 
(Akademie Wien) wechseln Vogel 
und Vogelnest in ein anderes Bedeu- 
tungsfeld. Hier haben sie die Auf- 
gabe, das sichere Nest, das den Pa- 
radiesesfriedenderHeimstattsymbo- 
lisiert, mit der Not der Flüchtlinge 
zu kontrastieren; hier wird auch 
für Wasser und Nahrung auf wun- 
derbare Weise gesorgt. Wenn, wie 
bei der Kremsmünsterer Weihnacht. 
auch über dem Dach fliegende Vö- 
gel gezeigt werden, so sind sie im 
Sinne des Mittelalters ein Hinweis 
für die Entsündung der Menschheit 
und so im Weihnachtsbild mehr als 
idyllisches Beiwerk naiver Erzähl- 
kunst! 
Der Stieglitz hat sich auch im Lied- 
gut niedergeschlagen." 
Und hat sich der Vogel nicht auch 
schon vor der Gotik, insbesondere 
ihrer mystischen Strömung, ange- 
boten? Darauf gibt uns die alte Ma- 
rienkirche in Alatri Antwort, denn 
dort sehen wir - kommen wir viel- 
leicht auch nur hin, um die Pal- 
laskermauern zu besuchen - eine 
für unsere Untersuchung bedeu- 
tungsvolle Nicopoia, die der Le- 
gende nach aus Byzanz kam. Das 
Kind trägt im Sinne der imperator 
coeli-Vorstellung in der Linken die 
Gesetzesrolle wie üblich, auf der 
Rechten jedoch einen Falken. Nach 
allem, was wir gehört haben, kann 
in der feudalistischen, vorfranzis- 
zäischen Zeit kein Singvögelehen 
mit dem thronenden Gotteskind ver-
	        
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