Der Reichtum und Glanz europäischer Kunst im Zeitraum 135071450 verdient historisch von verschiedenen
Seiten beleuchtet zu werden. Seine Entstehung setzt zunächst einmal voraus: eine europäische Adelsherrschaft,
die sich in der höhschen Kultur seit dem 12. Jahrhundert Kunstwelten eigener Art geschaffen hat: zunächst
in der Provence und im angevinischen englisch-französischen Kulturraum, dann über Flandern und den
Niederrhein, in Italien über die Lombardei und Sizilien ausstrahlend, schließlich die Adelswelt Böhmens,
Ungarns und Polens ergreifend. Eng verbunden mit diesem weltlichen Adel ist ein geistlicher Adel, der im
Besitze der Bischofsstühle und Kanonikate, als Äbte und Prälaten voll und ganz Anteil nimmt an der adeligen
Kunstwelt, Feierwelt, Schmuckkultur. Das sind zum größten Teil die Auftraggeber und Stifter des Kunst-
werkes in dieser Zeit. Neben ihnen steht ein reiches Patriziat in west- und zentraleuropäischen Städten.
In dieser europäischen Stadt sind die Künstler und Kunsthandwerker, die Ziinfte und Gilden zu Hause,
die als Hand-Werker diese blühende Kunst tragen.
Dieser europäische Adel bildet, durch Heirat, Abstammung, Erziehung verbunden, eine große Familie.
Eine Familie, die allerdings in steter Fehde lebt. Fehde, Krieg, Jagd, Feier, höHsches Fest, politische Ver-
hindung und Trennung gleiten ineinander über wie die Fäden und Farben in einer Tapisserie. Im Hundert-
jährigen Krieg 1339-1453 zwischen England und Frankreich, der zeitweise beide Länder ruiniert, ausblutet
und erschöpft, zeigt sich beides: die enge kulturelle Einheit dieses englisch-burgundisch-französischen
Raumes und die Permanenz des Streites.
Dieser europäische weltliche und geistliche Adel spricht französisch und lateinisch und in der höfisch model-
lierten Landessprache eine Sprache: geprägt durch den ungeschriebenen Kodex adeligcr Sitte und Selbst-
verpilichtung, unterstützt durch Kleriker, die diesem Adel aus antikischen und christlichen Beständen eine
stoisch-platonisch fundierte Sittenlehre vorstellen. Der Siegeszug der französischen Gotik durch Europa
wird durch diese adelige universale Formenwelt unterstützt und verstärkt seinerseits, mit der gemeinsamen
höfischen Literatur, diese Kunstsprache. Französische Baumeister bauen im hohen 13. und 14. Jahrhundert in
Spanien und Portugal, in Deutschland und Skandinavien. Der Meister Gerhardt des Kölner Domes ist wohl
französischer Herkunft. Etienne de Bonneuil ist 1287 Bauleiter in Uppsala. Kaiser Karl IV., der Gatte der
Blanche de Valois, läßt Mattheus von Arras als Dombaumeister 1344 nach Prag kommen. In Polen entsteht
St. Stanislaus in Krakau nach einem französischen Plan, in Ungarn bauen französische Zisterzienser, dann
Villard de Honnecourt und Jean de Saint-Die in Klausenburg und Kaschau.
Dieser adeligen Kultur und Kunstwelt, die bei aller regionalen Differenziertheit und Vielfärbigkeit die gemein-
same Grundlage nicht verleugnet, entspricht eine lateinische scholastische Intelligenz, wie sie seit dem
12. Jahrhundert die europäische Universität geschaffen hat. „Gebildeter" sein heißt seither „clerc", Kleriker
sein: von den Universitäten holen sich die Fürsten, holt sich der weltliche und geistliche Hochadel die Män-
ner, mit denen er seinen „Staat", seinen I-Iofstaat, die Verwaltung seiner Länder und Güter und nicht zuletzt
den Aufbau des europäischen „Nationalstaates" inauguriert.
Nach der reichen Entwicklung einiger großer und eines Dutzends kleiner Universitäten in Frankreich,
England, Italien im 12. und 13. Jahrhundert bringt das 14. und 15. Jahrhundert den entscheidenden
Vorstoß in den osteuropäischen Raum. Die Pariser Universität wird das Vorbild für Prag, die erste deutsche
und erste tschechische Universität (1348) und für Wien (1365); in beiden Städten machen sich zudem Ein-
flüsse Oxfords geltend. Magister der englischen Nation in Paris sind erste Professoren in Wien. Paris wird
noch für Erfurt (1379-92), Heidelberg (1385) und Köln (1388) Vorbild, aber auch für die ersten Universitäten
Polens (Krakau 1364-97) und Ungarns (Pecs I Fünfkirchen 1367, Budapest 1389795, Preßburg 1465767).
Die je zwei Griindungsdaten, die mehrfach für Universitäten Osteuropas und Ostmitteleuropas zu nennen
sind, weisen auf ein charakteristisches Phänomen hin: auf die inneren und äußeren Schwierigkeiten, mit
denen diese jungen Universitäten zu kämpfen hatten. Die Erstgriindung florierte oft nicht, es fehlte an
Studenten und Professoren, die beide lieber an die alten Universitäten des westeuropäischen Raumes
gingen. Erst eine Neugründung einige Jahrzehnte oder Jahre später vermag da ein gewisses Aufblühen
zu bewirken.
Die Chiffre „europäische Universität" macht jedoch bereits auf einen anderen Zusammenhang aufmerksam,
der die Blüte, den Reichtum, den strahlenden Glanz der europäischen Kunst in diesem Zeitraum eigentümlich
beleuchtet: in diesen Universitäten wurde eine gemeinsame Sprache und eine gesamteuropäische Intelligenz
gebildet, eine erste Intellektuellenkaste erzogen, hier aber stoßen gleichzeitig zum ersten Male hart und heiß
im Geistesraum die erwachenden Nationen aufeinander.
Dieses Europa ist im Zeitraum 135071450 ein heißer vulkanischer Boden. Auf ihm wachsen die dunkel-
roten Blüten des Nationalhasses, des Kirchenkarnpfes, eines mörderischen Geisteskampfes, der erst mit der
Vernichtung des Gegners „endet". Es sind Universitätsprofessoren, an deren Person und Werk bedeutende
und folgenreiche Volksbewegungen anschließen: an Wiclif und Hus und Hieronymus von Prag; an die
je 40 bis 70 Theologen, Juristen und Kanonisten, die dem Prozeß gegen Jeanne d'Arc, die Jungfrau von
Orleans, beiwohnen. Der bedeutende Oxforder Professor Wiclif wächst im Schutze der Oxforder Universität
und eines nonkonformistischen Adels zum Verkündet der „evangelischen Freiheiten" und zum Kämpfer
gegen den „feindlichen" französischen und römischen Papst heran. Auf Wiclif berufen sich der „früh-
kommunistische" Priester John Ball und War Tyler, die 1381 den großen Bauernaufstand führen. Oxford
steht in engen Beziehungen zu Prag. Hier erwacht eine junge tschechische Intelligenz in der Schule des
Thomas von Stitny, des Hieronymus von Prag und eben des Jan Hus. Die Verbrennung des Professors
Hus in Konstanz 1415 läßt eine Kluft aufbrechen, die zunächst in der hussitischen Bewegung und dann in
ihren Erbträgern Jahrhunderte hindurch Mitteleuropa zerteilt.
Stitny hatte erklärt: „Der Herr liebt das Tschechische nicht weniger als das Latein." Die im englischen
Dienst stehenden französischen Theologen fragen Jeanne d'Arc: „Haßt Gott die EngIänderP". Der große
Pariser Gelehrte und Universitätsmann Peter von Ailly meint über die kirchliche Verurteilung des Nikolaus
von Autrecourt, „daß vieles von ihnen (von seinen Thesen) verurteilt wurde aus Neid, was später doch
öffentlich und kirchlich gelehrt wurde". In einem tiefen Pessimismus sieht derselbe d'Ailly den Kosmos
heillos zerfallen in eine harte und unbarmherzige Naturgesetzlichkeit, die wir aber erforschen können, und
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FRIEDRICH Hl-iliR
Iiuropäinlße Perspektive
1350-1450