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Volltext: Alte und Moderne Kunst VII (1962 / Heft 56 und 57)

unmittelbar unter der Kuppa4) hat einen zu geringen 
Durchmesser, um den Oberabschluß des Fußes so 
gehalten haben zu können, wie er sich uns jetzt 
darbietet. Die schattenhafte Spur einer Eintiefung 
ungefähr 3mm vom Oberrand, unmittelbar über 
den Nieten, zeigt mit aller Klarheit, daß dieser Ab- 
schlußrand einstmals von einem Ring oder einem 
Knauf gehalten war, der nun verschwunden ist. 
Der Schaft muß ein wenig kürzer als heute gewesen 
sein; wenn wir den Ring des 17. Jahrhunderts ent- 
fernen und annehmen, daß der Ring des 16. Jahr- 
hunderts einen Knauf von etwa der gleichen Höhe 
ersetzt, erzielen wir ein überzeugendes Maßverhältnis 
(Abb. 2). Die Proportionen des sogenannten „Foun- 
der's Cup" in Christ's College, Cambridge, sind 
ersichtlich von einem Modell abgeleitet, das unserem 
Goldpokal sehr ähnlich gewesen sein muß. Diese 
Tatsache unterstützt unsere Annahme (Abb. 3). Der 
Pokal von Cambridge, der von etwa 1440 stammt, 
hat einen schärfer ansteigenden Deckel und zeigt 
überall etwas gestrecktere Linien. Sein Schaft ist 
daher auch ein wenig höher als der unseres Pokals, 
doch würde ein noch kürzerer Schaft für den Gold- 
pokal, wie er zustande käme, wollte man beide Ringe 
entfernen -xvie auch bereits vorgeschlagen wurde -, 
zu allzu gedrungenen Maßverhältnissen führen 5). 
Wie wir sahen, ist der Bestand des Pokals urkundlich 
bereits für 1391 gesichert, als cr vorn Herzog von 
Berry dem König Karl Vl. bei der Begegnung 
beider in Tours in diesem Jahr geschenkt worden 
war. Ohne Zweifel sollte das kostbare Geschenk 
zur Wiederversöhnung beider Männer beitragen. 
Doch das Ereignis trat plötzlich und unerwartet ein, 
so daß kaum anzunehmen ist, der Pokal sei extra 
dafür hergestellt worden. Die Tatsache, daß Leben, 
Märtyrerschaft und Xllfunder der hl. Agnes auf ihm 
in Email dargestellt sind, haben die Vermutung 
nahegelegt, der Pokal könne mit Karl V., der am 
16. September 1380 starb, in Verbindung gebracht 
werden. Karl V. wurde an einem 21. Jänner, dem 
Tag der hl.Agnes, geboren, und natürlicherweise 
förderte der Herrscher den Kult dieser Heiligen. 
M. Delisle hat nachgewiesen, daß Karl V. zur Zeit 
seines Todes nicht weniger als dreizehn kostbare 
Objekte mit Darstellungen der Heiligen besessen 
hat. Mit guter Begründung wurde daher vorge- 
schlagen, der Due de Berry habe den Pokal zum 
Geburtstag seines Bruders am 21. Jänner 1381 an- 
fertigen lassen, doch sei die Übergabe des Geschenkes 
nie erfolgt, da der König bereits vor diesem Geburts- 
tag das Zeitliche segneteö). 
Überraschend wenig ist bisher an Versuchen einer 
stilistischen Analyse des Pokals veröffentlicht worden. 
immerhin hat man darauf hingewiesen, daß die 
feine pointillistische Dekoration, die den gesamten 
glatten goldenen Grund des Pokales mit reizvollem 
Rollwerk, gebildet aus naturalistischem, von Vögeln 
bewohntem Laub bedeckt, an den Dekor des Hinter- 
grundes mancher Teilstücke aus der Tapisserie-Serie 
der Apokalypse von Angers erinnert, die in Paris 
zwischen 1375 und 1384 entworfen worden war7) 
(Abb. 8). Doch ein bloßer Blick auf die Zeichnung 
des Figurenstils beweist, daß nichts von den ge- 
knickten Drapierungen oder den stilisierten Köpfen 
mit ihrem dichtgelockten Haar 7 diesen so charakte- 
ristischen Elementen der Tradition des 14. Jahr- 
hunderts in Frankreich 7 auf unserem Pokal zu 
finden ist. Der weiche, glatte Fall der Gewänder auf 
dem Pokal zeigt die volle Assimilierung des italieni- 
schen Einllusses auf, der in vielen Teilen Europas 
gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts fühlbar war 
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(Abb. 4). Eine abschließende Analyse würde ergeben, 
daß dieser italienische Zug unseres Pokals von der 
Florentiner Schule abgeleitet werden muß - und 
von ihrem größten Vertreter am Beginne des 14. Jahr- 
hunderts, Giotto (Abb. 7). Aber nicht nur in der 
Drapierung kann dieser Einiluß beobachtet werden, 
sondern ebenso in den schlichten, geschlossenen 
Umrißlinien der Figuren, in den Posen einiger von 
ihnen, wie beispielsweise der auf dem Boden vor der 
Bahre sitzenden Gestalt (Abb. 1), und schließlich 
auch in der gesamten Raumauffassung. Der von den 
Gestalten der Tiefe nach ausgefüllte Raum ist tat- 
sächlich von ihrem eigenen Volumen geschaffen und 
umschrieben. Die Grundebene ist von begrenzter 
Tiefe, ihr Horizont ist niedrig. Die Architektur ist 
auf den sehr begrenzten Einsatz kurzschriftartiger 
Symbole beschränkt; all dies begegnet uns auch im 
Werk von Giotto (Abb. S). Doch der Goldgrund, der 
an sich jene unbegrenzte Räumlichkeit nahelegt, die 
bei Giotto zumeist durch die Ausbreitung von hlauem 
Himmel erzielt wird, ist bei unserem Pokal infolge 
des Bedecktseins mit Rankenwerk etwa als eine Art 
von Vorhangabschluß bei einer seichten Theater- 
bühne zu verstehen (Abb. 4). Die Gestalten, die in 
der Florentiner giottesken Malerei so statisch-irdisch 
wiedergegeben sind, scheinen auf unserem Pokal in 
wesentlich griäßerer Verfeinerung und betont höii- 
scher Eleganz auf, doch ist es schwer, diesen Stil in 
Beziehung zur höfischen Buchmalerei der Pariser 
Schule zu setzen. Die Betonung naturalistischer 
Einzelheiten, figurenreicher Kompositionen und 
hoher Horizonte, wie sie sich in Paris um diese Zeit 
und in solchen Handschriften wie der „Cite de Dieu" 

	        
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