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Volltext: Alte und Moderne Kunst VII (1962 / Heft 56 und 57)

von 1376, einem Werk des sogenannten „Maitre aux 
Bouqueteaux" entwickeln, und in der die ersten 
Schritte zur vollen Verwirklichung der Raumtiefe 7 
und Unbegrenztheit der nordischen Renaissance voll- 
zogen werden, scheint auf unserem Pokal nicht auf. 
Auch die Raumauffassung und im besonderen der 
Figurenstil der Handschriften aus der „Pucellli 
Richtung (diese Gruppe absorbierte im 2. Viertel 
des Jahrhunderts alle italienischen Einflüsse) hat mit 
dem Stile des königlichen Goldpokals nichts zu tun. 
Der begrenzte Raum unseres Pukals, der durch die 
Felsenlandschaft, die massiven Bäume und die drei- 
dimensionalen Qualitäten der Figuren selbst ge- 
schalTen wird, kann in den erwähnten Handschriften 
nirgends beobachtet werden. Aber wo stoßen wir 
dann auf so starke Florentiner Tendenzen in der 
Kunst der siebziger und achtziger Jahre des 14. Jahre 
hunderts? Unzweifelhaft ist der lebendigste Mittel- 
punkt in jenem Stile zu suchen, der am böhmischen 
Hof in Prag geübt wurde. Dieser Stil breitet sich 
von dort über Norddeutschland und sogar bis ling- 
land aus. ln der berühmten Wenzel-Bibel können 
wir alle diese Elemente feststellen (Abb. 10), die 
begrenzte Tiefräumlichkeit, die „Abschlußvorhang- 
wirkung" des Hintergrundes, die durch die Vere 
wendung naturalistischer und pointillistischer Floral- 
dekoration zustande kommt, die symbolischen Archi- 
tektur-Fragmente. Obwohl die Gesichtstypen mit 
den betonten Stirnpartien und den spitzen Nasen 
und auch der weiche Fluß des Faltenwerkes an die 
Gestalten des Goldpokales erinnern (Abb. 6), ist der 
Stil der Wenzel-Bibel dem unseres Pokals doch nicht 
nahe genug, um in seiner möglichen Vorbildhaftigkeit 
ganz überzeugen zu können. Vielleicht kommt der 
Stil des Meisters Bertram, der in Hamburg tätig 
War und manche grundlegende Zügc der böhmischen 
Kunst bewahrte, unserem Pokal ein wenig näher 
(Abb. 9). Seine Figuren sind breiter, kleiner, die 
Köpfe sind größer. Aber unser Pokal hat nichts 
gemein mit den Gesichtstypen der von Meister 
Bertram dargestellten Bauern. Die „deutsche" Eigen- 
schaft des Übertreibens bis zur Grenze des Karikatur- 
haften ist dem Stil des Goldpokales fremd. Hinsicht- 
lich einer grundlegenden Abhängigkeit von italieni- 
schen Vorbildern, wie in der Raumauffassung, der 
Beziehung der Figuren zum Raum und ihrer Ein- 
fügung in die Landschaft, erweisen sich der Kleister 
des Goldpokals und Meister Bertram als Angehörige 
einer Generation. Nur in der zurückhaltenden lile- 
ganz erinnert uns der Meister des (Soldpokals an jene 
höfischen Qualitäten, die dem irdischeren, einfache- 
ren deutschen Meister abgingen. Aber wo in Paris 
v und der Pokal kann nur dort entstanden sein 
finden wir jene Qualitäten, die zum wesentlichsten 
Punkt des Stiles unseres hleisters gehören? Jean 
Porcher hat unlängst auf eine der wenigen fran- 
zösischen Handschriften hingewiesen, die für Jo- 
hann ll., den Vater Karls V., während einer kurzen 
und ohne Gelegenheit zu weiterer Entwicklung 
gebliebenen Periode italienischen Einflusses ges 
schaffen worden warä). Teile dieser Handschrift 
wurden um 1355 illuminiert. Aus einigen der 
lNIarginalillustrationen können wir ersehen, wie ein 
in böhmischer oder deutscher Umgebung heran- 
gebildeter Goldschmied9) dennoch fähig war, sich 
jene Feinheit und Eleganz anzueignen, die not- 
wendig waren, um seinen Stil zur Erreichung der 
glanzvollen Synthese des königlichen Goldpokzils 
emporzuläutern. 
(Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Ernst 
, 10 Köller) 
x Die Apokalypse von Angcrs, 
Paris, 137571384 
9 Meister Bcrmm. Detail vom 
PeKri-Allar. 1379. Kunsthalle 
Hamburg 
IO Vtnrcibuug aus dem Pamdia. 
Wenzel-Bibcl. m5, Spiißi vicr- 
zchnlcs jahrhundtrt (Cod, 2759, 
(01,5, Oslcr "icllischc National- 
bibliothek, Wien) 
 
l) Die vollständigste lluhlikatiun, 
die bisher über den Pokal erschie- 
nen ist. ist die von O. M. Dallon, 
Til! Royul Gulil Clip, London, 
1924. Für alle näheren Details sei 
auf diese Schritt hingewiesen. 
1) Die Inschrift lautet: GAZAE 
SACRAE EX ANGLlA RE- 
LIQUIAS PAClS INTER RE- 
GES FACTAE MUNUMEN- 
TUM, CRATERA AUllO SO- 
LIDUM, lOAN. VELASQ. CO- 
MESTAB. lNDE R. B. G. 
REDIENS, XTU. PACIFICA- 
TORI D D." (Dieser Pokal aus 
Gold, ein Relikt des [heiligen] 
Kronschatzes von England und 
ein Gedenkzeichen des Friedens 
zwischen den beiden Königen, 
bietet als ein Opfer Christus dem 
Friedenßtifter an, der Ktinnetahle 
juan de Velasco, nach Ruckkehr 
seiner erfolgreichen Misiinn). 
3) S. Dalton, S.Hr9 und S. 9, 
Anm. 1, wo der französische Text 
Zitiert ist. Die Originalmanuskrip- 
tc sind Paris. hibl. Nat. Ms. 
franqzis 21445, f. I6 und 21446, 
f. 45 v. 
i) Auf dieser Photographie kann der 
Ring nicht gescheit werden; er 
ist durch den äußeren unteren 
Rand der Kuppel verborgen, wel- 
ehe sich nach unten neigt, bevor 
sie aufsteigt. 
5) S. die Zeichnung bei Dalton. S. 3, 
nder die Photographie bei 1. Evans. 
Ar! in Jlledizlvnl Fmnre 987 - N98, 
Oxford, 1948, T. 175. 
") Mir sind nur noch drei weitere 
Zyklen über das Leben der 
hLAgnes bekannt. Der früheste 
beßndet sich in Neapel. in der 
Küche Donna Regina,und stammt 
aus der Schule Cavallinis. Der 
zweite befindet sich im Breviarum 
des Duke of lletlford von 
1424-35 (Paris, Nat. Bihl. Nut. 
ms. lat. 17294, f. 398r und v. 
s. Leroquais, Les lneiliuires . . ., 
Bd. Hi [1934], Nr. 634. S. 315). 
Der dritte ist auf einem nord- 
deutschen Gemäldc aus dem 
15. Jahrhundert in der Gemälde- 
galerie Straßburg. Keiner von 
diesen Zyklen stimmt ikono- 
graphisch mit den Szenen des 
Gnldpokzls überein, obwohl der 
des Breviarums ihnen am nächsten 
steht. So wird z. B. die Heilige 
auf dem Gollipnkal und im Bre- 
viarum durch einen Speer. in den 
beiden anderen Zyklen mit einem 
Dolch getötet. Auf dem Deckel 
dß Goldpokals sind die Szenen 
von Spruehbindcnt mit ent- 
sprerhendem Text begleitet. Mein 
Kollege, D. Turner, VOIII Depart- 
trteut cf Manuscripts, British 
Museum, gestattete mir. folgende 
Meinung zu zitierel Die bibli- 
sche Herkunft eini er Textstellen 
war schon von Dniztun festgestellt 
worden (s. 4). aber es scheint 
dnCh, daß der unmittelbare Ur- 
sprung in einem Ofiieium oder 
einer Legende der Heiligen ge- 
legen ist. Obwohl man .llli surn 
dcsponsatauf in dem üblichen 
Oftizium der Heiligen finden 
kann. hat sich jedorh diese Quelle 
für die weiteren lnsehriften als 
unergichig erwies. " 
7) T. Mü er und E. Stelllgriibcr, Die 
Französische Goldemailplastik um 
1400, Müiltilflttblrlillblltll der bilden- 
den Kunst, dritte Folge, lid. V, 
1954, S. 32. 
")  Porcher, Frrvrrll Vinirilurzr. Lun- 
don, 1960, 355-26. Abb 5B 
9) Es ist crwiuen, daß in 
jahreu deutsche Goldschmiede In 
Paris tätig waren. s. c. Troeseher. 
Kunst und Kiimtlenlmrldzrungerl in 
Mineleinepn 8004500. Baden- 
"ßaden, erster Band, 1953. Seite 
lD6ä111. 
 
 

	        
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