VOM ROKOKO ZUM EMPIRE
ODER: ..VERLUST DER MITTE"
IN STATU NASCENDI
Zur Ausstellung französischer und eng-
lischer Farbstiche aus Eigenbesitz in der
Albertina
Diese wichtige Ausstellung ist die erste
der Öffentlichkeit zugängliche Leistung
des neuen Direktors, Dr. Walter
Koschatzky. Allein schon deshalb sah
man ihr rnit besonderem Interesse
entgegen und fühlte sich verpflichtet,
sie nicht nur rein von den Objekten
her, sondern vor allem als Vorweg-
nahme eines Lebensprogrammes zu
werten: Welche Linie. welche grund-
sätzliche Haltung würde sich in ihr
offenbaren?
Zunächst glauben wir. eine starke
Betonung des Didaktischen feststellen
zu können; die Ausstellung will mehr
sein als ein "display" schöner Objekte.
sie bezieht sich auf ein gesamteuro-
päisches kulturgeschichtliches Problem.
sie ist eine Aussage zur Frage der Ent-
stehung der Gegenwartssituation 7
kurz gesagt, sie bezieht sich auf größte
Zusammenhänge und weist immer
wieder auf diese hin. Dementsprechend
wendet sie sich vielleicht auch an
breitere Schichten als die Ausstellungen
der vergangenen Ära; das äußert sich
allein schon im Katalog. der textlich
nicht von jener erschöpfenden wissen-
schaftlichen Akribie ist wie ältere
Albertinakataloge. dafür aber größten
Wert auf gute Ausstattung und leichte
Verständlichkeit legt.
Die Ausstellung arbeitet sehr klar her-
vor, wie die mannigfaltigen Techniken
des Farbstiches nur auf Grund natur-
wissenschaftlicher Überlegungen eines
absoluten Nichtkiinstlers (Newton!) ent-
stehen konnlen, wie zum ersten Male
also modernes naturwissenschaftliches
Denken nicht vom Praktischen (ver-
bessertes Werkzeug, Malmaterial etc),
sondernvamGrundlagenmäßigen(Farb-
theorie!) her einen entscheidenden
Einfluß auf die bildende Kunst aus-
übte. ln dieser Hinsicht ist der Erfinder
des Dreifarbendruckes. der Frank-
furter Jakob Christof Le Blon, trotz
unleugbarer Durchschnittlichkeit der
künstlerischen Qualität seines Schaffens
ein wahrer Gigant der Kunstgeschichte.
In Persönlichkeiten wie Gilles Demar-
teau. dessen Reproduktionstechnik im
wahrsten Sinne des Wortes ,.täuschend
ähnlich" ist, offenbart sich ein weiterer
Trend der neuen Zeit, der auch heute
noch nichts von (seiner Bedeutung ver-
loren hat: das Uberwiegen des Tech-
nischen. der Sieg des Raftinements im
Reproduktiven über das eigentlich
Schöpferische. Bezeichnenderweise sind
in der Ausstellung ja nur sehr wenige
Farbstecher vertreten, die nach eigenen
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Entwürfen arbeiteten (Louis-Philibert
Debucourt). aber die technische Voll-
kommenheit des Werkes der reinen
Re-Produzenten läßt in sehr gefährlicher
Weise die Frage nach dem Original
überhaupt vergessen. Und auch heute
noch hält eine nicht geringe Anzahl
von "Kunstfreunden" das Original als
solches nicht aus und flüchtet sich
gleichsam in die Reproduktion, wobei
in einer fast schon bewußten Weise
das Erlebnis des Artistischen die Aus-
einandersetzung mit dern Künstlerischen
verdrängt (die Pariser Spitzer-Druckel).
Noch dazu manifestiert sich in der Aus-
stellung der Albertina in geradezu er-
schreckender Weise. wie sehr sich ein
immer höheres technisches Können an
immer unwilrdigeren Sujets verschwen-
det. Hier sieht man sich beinahe schon
versucht, an die Diskrepanz zwischen
technischem lngenium und künstle-
rischer Leistung in der Film-„Kunst"
unserer Tage zu denken.
Im „sentimentalen Naturalismus" Eng-
lands bricht der Farbstich schließlich
in sich zusammen: zunächst verschwin-
den die in Frankreich immerhin noch
durch die Anlehnung an die Mythologie
legitimierten bukolischen Schöpfungen
eines „paradis terrestre", die Kunst
wird vom inhaltlichen her vollends
bürgerlich, anspruchslos und simpel;
der Bürger, der sich auch in Frankreich
längst schon ..von hinten" in die höfische
Kultur eingeschlichen hatte. lüßt die
Maske fallen, der Adel hingegen
flüchtet sich bei der Darstellung schöner
Frauen gerne in die Maske eines sogar
..unterbürgerlichen" Standes. nämlich
den des Schauspielers: der Selbst-
betrug wird bewußt vollzogen. Auch
im Technischen wird man primitiv. denn
schon war die "totale" Reproduktion
französischer Observanz einfach zu
teuer und damit zu unrentabel ge-
worden. man begnügt sich nunmehr,
die Schabkunstblätter oder Punktier-
stiche in der Platte oder auf dem
Abzug selbst zu kolorieren. Und als
die Lithographie erfunden ist. die nun-
mehr auch den „vierten Stand" an
der bildenden Kunst Anteil nehmen
läßt. ist es mit den komplizierten
Techniken des Farbstiches aus und
vorbei. -
Zahllos sind die Lehren. die aus dieser
Ausstellung gezogen werden können.
nur einige Gedankengänge durften an
dißer Stelle skizziert werden: sie
versuchten. die innere Notwendigkeit
diser Manifestation aufzuzeigen.
Kein größerer Gegensatz ist denkbar
als der. der zwischen den Farbstichen
des Dixhuitieme mit ihrer weltiiüchigen,
gefühlsduseligen und pseudoerotischen
Verlogenheit und den harten. uner-
bittlich zugreifenden, betont sozial-
kritischen und dabei unerhört manu-
mentalen Arbeiten des Amerikaners
Ben Shahn klafft, der zu den bedeu-
tendsten Vertretern einer immer sel-
tener werdenden .,engagierten" Kunst
zählt. Kein Zweifel, daß Shahn in
einem Atemzug mit Daumier, Zille,
der Kollwitz. Otto Dix und vor allem
mit George Grosz genannt werden
muß. aber natürlich hat seine Kunst,
bedingt durch die Verschiebungen in
der zeitlichen Situation, ihre besonderen
Akzente. So spielt das Surreale in ihr
eine große Rolle, soweit es dazu dient,
die Verfremdung des Menschen mit
seiner Umwelt zu dokumentieren oder
seine Sehnsucht nach Besserern und
Höherem in Form von Traum-Offen-
barungen darzustellen. Eine weitere
Quelle der Kunst Ben Shahns ist die
"American Scene". in der in sehr
existenzialistischer Weise die innere
Heimatlosigkeit der Menschheit in der
Neuen Welt ihren Niederschlag findet.
Auch Shahn gehört zu den Bekämpfern
der vielfachen Ungerechtigkeiten des
20. Jahrhunderts: sein Schaffen nimmt
nicht umsonst Ausgang von dem Van-
zetti-Sacco-Prozeß. der in den frühen
dreißiger Jahren Amerika erschütterte
und nach Ansicht vieler in einen un-
verzeihlichen, bewußten Justizmord
mündete - doch ist Shahn nicht an-
nähernd so rabiat wie Dix oder Grosz.
weil er sich stärker als die Vorgenannten
bemüht. in der Tragödie einer Klasse
die Tragödie von Einzelmenschen zu
suchen. Vielleicht war Shahn gerade
aus dieser Haltung heraus prädestiniert,
Monumentalarbeiten wie Fresken, aber
auch überaus starke und werbewirk-
same Plakate zu gestalten. ln seinem
Werk gibt es nirgends unüberbrückbare
Klüfte zwischen Verzweiflung und
Hoffnung. Nahm er im 2. Weltkrieg
intensivsten Anteil an Hunger, Not und
Zerstörung, widmete er sein Können
mit ebensolcher Hingabe und Über-
zeugungskraft der symbolischen Über-
höhung des Wiederaufbaugedankens
zur Auferstehungsidee.
Ben Shahn. ltcilian Landscape Il, Tempera,
1944, 55.7 X 75.3 cm. Privatbesitz Buffalo
Ernst Köller
FESTWOCHEN
ALBERTINA:
BEN SHAHN
IN DE!