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Volltext: Alte und Moderne Kunst VII (1962 / Heft 56 und 57)

VOM ROKOKO ZUM EMPIRE 
ODER: ..VERLUST DER MITTE" 
IN STATU NASCENDI 
Zur Ausstellung französischer und eng- 
lischer Farbstiche aus Eigenbesitz in der 
Albertina 
 
Diese wichtige Ausstellung ist die erste 
der Öffentlichkeit zugängliche Leistung 
des neuen Direktors, Dr. Walter 
Koschatzky. Allein schon deshalb sah 
man ihr rnit besonderem Interesse 
entgegen und fühlte sich verpflichtet, 
sie nicht nur rein von den Objekten 
her, sondern vor allem als Vorweg- 
nahme eines Lebensprogrammes zu 
werten: Welche Linie. welche grund- 
sätzliche Haltung würde sich in ihr 
offenbaren? 
Zunächst glauben wir. eine starke 
Betonung des Didaktischen feststellen 
zu können; die Ausstellung will mehr 
sein als ein "display" schöner Objekte. 
sie bezieht sich auf ein gesamteuro- 
päisches kulturgeschichtliches Problem. 
sie ist eine Aussage zur Frage der Ent- 
stehung der Gegenwartssituation 7 
kurz gesagt, sie bezieht sich auf größte 
Zusammenhänge und weist immer 
wieder auf diese hin. Dementsprechend 
wendet sie sich vielleicht auch an 
breitere Schichten als die Ausstellungen 
der vergangenen Ära; das äußert sich 
allein schon im Katalog. der textlich 
nicht von jener erschöpfenden wissen- 
schaftlichen Akribie ist wie ältere 
Albertinakataloge. dafür aber größten 
Wert auf gute Ausstattung und leichte 
Verständlichkeit legt. 
Die Ausstellung arbeitet sehr klar her- 
vor, wie die mannigfaltigen Techniken 
des Farbstiches nur auf Grund natur- 
wissenschaftlicher Überlegungen eines 
absoluten Nichtkiinstlers (Newton!) ent- 
stehen konnlen, wie zum ersten Male 
also modernes naturwissenschaftliches 
Denken nicht vom Praktischen (ver- 
bessertes Werkzeug, Malmaterial etc), 
sondernvamGrundlagenmäßigen(Farb- 
theorie!) her einen entscheidenden 
Einfluß auf die bildende Kunst aus- 
übte. ln dieser Hinsicht ist der Erfinder 
des Dreifarbendruckes. der Frank- 
furter Jakob Christof Le Blon, trotz 
unleugbarer Durchschnittlichkeit der 
künstlerischen Qualität seines Schaffens 
ein wahrer Gigant der Kunstgeschichte. 
In Persönlichkeiten wie Gilles Demar- 
teau. dessen Reproduktionstechnik im 
wahrsten Sinne des Wortes ,.täuschend 
ähnlich" ist, offenbart sich ein weiterer 
Trend der neuen Zeit, der auch heute 
noch nichts von (seiner Bedeutung ver- 
loren hat: das Uberwiegen des Tech- 
nischen. der Sieg des Raftinements im 
Reproduktiven über das eigentlich 
Schöpferische. Bezeichnenderweise sind 
in der Ausstellung ja nur sehr wenige 
Farbstecher vertreten, die nach eigenen 
56 
Entwürfen arbeiteten (Louis-Philibert 
Debucourt). aber die technische Voll- 
kommenheit des Werkes der reinen 
Re-Produzenten läßt in sehr gefährlicher 
Weise die Frage nach dem Original 
überhaupt vergessen. Und auch heute 
noch hält eine nicht geringe Anzahl 
von "Kunstfreunden" das Original als 
solches nicht aus und flüchtet sich 
gleichsam in die Reproduktion, wobei 
in einer fast schon bewußten Weise 
das Erlebnis des Artistischen die Aus- 
einandersetzung mit dern Künstlerischen 
verdrängt (die Pariser Spitzer-Druckel). 
Noch dazu manifestiert sich in der Aus- 
stellung der Albertina in geradezu er- 
schreckender Weise. wie sehr sich ein 
immer höheres technisches Können an 
immer unwilrdigeren Sujets verschwen- 
det. Hier sieht man sich beinahe schon 
versucht, an die Diskrepanz zwischen 
technischem lngenium und künstle- 
rischer Leistung in der Film-„Kunst" 
unserer Tage zu denken. 
Im „sentimentalen Naturalismus" Eng- 
lands bricht der Farbstich schließlich 
in sich zusammen: zunächst verschwin- 
den die in Frankreich immerhin noch 
durch die Anlehnung an die Mythologie 
legitimierten bukolischen Schöpfungen 
eines „paradis terrestre", die Kunst 
wird vom inhaltlichen her vollends 
bürgerlich, anspruchslos und simpel; 
der Bürger, der sich auch in Frankreich 
längst schon ..von hinten" in die höfische 
Kultur eingeschlichen hatte. lüßt die 
Maske fallen, der Adel hingegen 
flüchtet sich bei der Darstellung schöner 
Frauen gerne in die Maske eines sogar 
..unterbürgerlichen" Standes. nämlich 
den des Schauspielers: der Selbst- 
betrug wird bewußt vollzogen. Auch 
im Technischen wird man primitiv. denn 
schon war die "totale" Reproduktion 
französischer Observanz einfach zu 
teuer und damit zu unrentabel ge- 
worden. man begnügt sich nunmehr, 
die Schabkunstblätter oder Punktier- 
stiche in der Platte oder auf dem 
Abzug selbst zu kolorieren. Und als 
die Lithographie erfunden ist. die nun- 
mehr auch den „vierten Stand" an 
der bildenden Kunst Anteil nehmen 
läßt. ist es mit den komplizierten 
Techniken des Farbstiches aus und 
vorbei. - 
Zahllos sind die Lehren. die aus dieser 
Ausstellung gezogen werden können. 
nur einige Gedankengänge durften an 
dißer Stelle skizziert werden: sie 
versuchten. die innere Notwendigkeit 
diser Manifestation aufzuzeigen. 
Kein größerer Gegensatz ist denkbar 
als der. der zwischen den Farbstichen 
des Dixhuitieme mit ihrer weltiiüchigen, 
gefühlsduseligen und pseudoerotischen 
Verlogenheit und den harten. uner- 
bittlich zugreifenden, betont sozial- 
kritischen und dabei unerhört manu- 
mentalen Arbeiten des Amerikaners 
Ben Shahn klafft, der zu den bedeu- 
tendsten Vertretern einer immer sel- 
tener werdenden .,engagierten" Kunst 
zählt. Kein Zweifel, daß Shahn in 
einem Atemzug mit Daumier, Zille, 
der Kollwitz. Otto Dix und vor allem 
mit George Grosz genannt werden 
muß. aber natürlich hat seine Kunst, 
bedingt durch die Verschiebungen in 
der zeitlichen Situation, ihre besonderen 
Akzente. So spielt das Surreale in ihr 
eine große Rolle, soweit es dazu dient, 
die Verfremdung des Menschen mit 
seiner Umwelt zu dokumentieren oder 
seine Sehnsucht nach Besserern und 
Höherem in Form von Traum-Offen- 
barungen darzustellen. Eine weitere 
Quelle der Kunst Ben Shahns ist die 
"American Scene". in der in sehr 
existenzialistischer Weise die innere 
Heimatlosigkeit der Menschheit in der 
Neuen Welt ihren Niederschlag findet. 
Auch Shahn gehört zu den Bekämpfern 
der vielfachen Ungerechtigkeiten des 
20. Jahrhunderts: sein Schaffen nimmt 
nicht umsonst Ausgang von dem Van- 
zetti-Sacco-Prozeß. der in den frühen 
dreißiger Jahren Amerika erschütterte 
und nach Ansicht vieler in einen un- 
verzeihlichen, bewußten Justizmord 
mündete - doch ist Shahn nicht an- 
nähernd so rabiat wie Dix oder Grosz. 
weil er sich stärker als die Vorgenannten 
bemüht. in der Tragödie einer Klasse 
die Tragödie von Einzelmenschen zu 
suchen. Vielleicht war Shahn gerade 
aus dieser Haltung heraus prädestiniert, 
Monumentalarbeiten wie Fresken, aber 
auch überaus starke und werbewirk- 
same Plakate zu gestalten. ln seinem 
Werk gibt es nirgends unüberbrückbare 
Klüfte zwischen Verzweiflung und 
Hoffnung. Nahm er im 2. Weltkrieg 
intensivsten Anteil an Hunger, Not und 
Zerstörung, widmete er sein Können 
mit ebensolcher Hingabe und Über- 
zeugungskraft der symbolischen Über- 
höhung des Wiederaufbaugedankens 
zur Auferstehungsidee. 
Ben Shahn. ltcilian Landscape Il, Tempera, 
1944, 55.7 X 75.3 cm. Privatbesitz Buffalo 
Ernst Köller 
FESTWOCHEN 
ALBERTINA: 
BEN SHAHN 
IN DE!
	        
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