GALERIE
IN DER BIBERSTRASSE:
KINDERZEICHNUNGEN AUS
POLEN
Sowohl über die Psychologie als auch
über die prinzipielle künstlerische Be-
deutung der Kinderzeichnung und nicht
zuletzt über ihre allgemeingültigen
formalen Grundgesetze ist längst schon
alles Wesentliche gesagt worden. Trotz-
dem glauben wir. angesichts der Fülle
von Arbeiten polnischer Kinder eine
resiimierende Feststellung machen zu
dürfen: uns will es scheinen. als sei
das Grundgefühl dieser zumeist in
leuchtenden, tiefen und satten Farben
gehaltenen Bilder ein durchaus tra-
gisches; in vielen der dargestellten
Gesichter mit ihren weit aufgerissenen
Augen. in denen Empfindsamkeit und
Starre in nicht endenwollendem Wider-
spruch liegen, offenbart sich uns ein
Lebensgefühl. das an die seelische
Situation erinnert. aus der die Ex-
pressionisten ihre ersten lmpulse schöpf-
ten. Was aber wichtiger ist, dürfte in
der Erkenntnis beschlossen sein. daß
das Kindesalter kein glückliches ist,
sondern daß in ihm noch viel von jener
Weltenangst magischer Natur mit-
schwingt. wie sie den sogenannten
"Wilden" zugehört. Weiters möchten
wir festhalten, daß es in der Kunst des
Kindes keine Grenze zwischen objek-
tiver und subjektiver Realität. zwischen
Gesehenem und Geschautem gibt;
alles ist wirklich und unwirklich zu-
gleich, und die Trennungslinie geht
unmerklich durch alles Gesehene und
Dargestellte. Wieder wirft sich die
Frage auf: was ist denn eigentlich
dieses vertrackte "Wirkliche"?
Ein Letztes: in dem hohen Grad an
Sensibilität, Erregtheit und lrrealität
offenbart sich sicherlich ein typisch
..östliches" Lebensgefühl: irgendwie ist
in jedem dieser Kinder ein echter
Chagall verborgen.
DAS GIBT ES NUR IN WIEN:
EIN KOKOSCHKA FÜR EIN
BUTTERBROT
Der 14. März1962wird in die Geschichte
des noch immer uneröffneten Museums
für neuzeitliche Kunst in Wien als
Freudentag eingehen. denn dem Leiter
dieses Institutes. Dr. Werner Hafmann.
war es möglich, ein w allerdings un-
vollendetes - Gemälde von Kokoschka
aus der Zeit um 1908, darstellend eine
junge Dame. zum Spottbetrag von nur
S 40.000.i zu erwerben. Das Bild,
vom Künstler selbst in seiner Authen-
tizität und Wichtigkeit bestätigt. zeigt
die Dargestellte in breiter. dünner
Malweise und in jener makabren
Transparenz und Transzendenz. mit der
O. K. damals seine Modelle zu inter-
pretieren pflegte; die berühmteste Arbeit
dieser Periode ist wahl das Bildnis
Sorel. Also gewiß kein "schönes" Bild,
aber ein Werk von packender Aussage-
kraft und einer sehr spezifischen Verve,
die es erscheinen Iäßt. als hätte der
Teufel selbst dem Künstler den Pinsel
geführt. Und dann dieser lächerliche,
dem inneren Wert des Gemäldes nicht
einmal annähernd gerecht werdende
Preis! Vergessen wir nicht, daß am
S. Februar 1962. also einen Monat und
zehn Tage vor dem Verkauf der
"Jungen Dame". in London das
Bildnis Herwarth Walden um nicht
weniger als S 1.500.000? bei Sotheby's
58
versteigert wurde. Selbst unter An-
rechnung aller e und auch dann nur
bei bösem Willen i als negativ an-
zusehenden Charakteristika hätte das
Bild in Wien seine guten S 300,000.-
erbringen müssen und selbst dann wäre
die Relation zu „Herwarth Walden"
immer noch unzulänglich gewesen.
Das Ereignis dieses Wiener Verkaufes
spielte sich in der Messe-Kunstauktion
des Dorotheums ab. Es ist Ihrem Bericht-
erstatter bekannt. daß mehrere Per-
sönlichkeiten aus Sammler- und Händ-
lerkreisen sich für das Bild interessierten.
Wie konnte es dann zu einem so nied-
rigen Preis kommen. zumal am gleichen
Versteigerungstog Blätter von Schiele
wieder die üblichen Höhen zwischen
S 10.000? und S 2O.OOO.A erzielten?
Zum Vergleich sei der Text eines
Inserates angeführt. das die angesehene
englische Autofirma Rolls Rayce (die
außerdem noch Erzeugerin des "Bent-
ley" ist) vor einiger Zeit in großen
amerikanischen Zeitungen lancierte.
Darin hieß es so ungefähr: ..Wenn Sie
sich keinen Rolls Royce zutrauen. weil
Sie sich ihm innerlich nicht gewachsen
fühlen, kaufen Sie sich einen Bentley,
er ist genau so gut." Der Erfolg war.
dali die Firma mehr Rolls Royce ab-
setzte als je zuvor. Auf Wien über-
tragen bedeutet das Beispiel, daß man
sich hier anscheinend einem Kakoschka
immer nach nicht gewachsen fühlt.
daß man a priori die Flinte ins Korn
wirft und sich lieber mit einem Schiele
zufrieden gibt.
Und schließlich kann ja nicht geleugnet
werden, daß auch Schiele sehr gut ist.
Ernst Köller
IM GRÖSSTEN
KUNSTAUKTIONSHAUS DER
WELT
Man sieht dem schmalbrüstigen, nur
drei Fensterachsen breiten Haus in
der New Bond Street in London
wahrhaft nicht an, daß in ihm Tag
für Tag (mindestens fünfmal in der
Woche. manchmal auch zweimal am
Tag) Schätze an Kunstgegenständen.
Juwelen und Büchern versteigert wer-
den, mit denen sich das Angebot
ähnlicher Auktionshäuser in der übri-
gen Welt nur schwer vergleichen
läßt; die Firma Sotheby 81 Co.. 1744
gegründet. bietet sich nach außen
hin so bescheiden. ja schäbig dar. wie
dies nur in England als äußeres Zeichen
höchsten und sublimsten Selbstbewußt-
seins möglich ist. Wer durch die drei
oder vier Schaustellungssäle dieses
Institutes geht. hat als Wiener eher
den Eindruck, sich im Kolowrat-Scial
des Dorotheums (in dem im wesent-
lichen nur besserer Kram ausgeboten
wird) zu befinden. undselbst die Sprache
der kostbaren Objekte ist nicht stark
genug. um dem unerfahrenen Besucher
vom Kontinent Schlüsse auf die immense
Höhe des Jahresumsatzes dieser Firma
zu vermitteln. denn grundsätzlich wird
im Gegensatz zu Wien alles so schau-
gestellt, wie es übernommen wird.
also ungereinigt. nicht restauriert. be-
haftet mit allen Fehlern und Mängeln.
die durch natürliches Altern. unsach-
gemäße Behandlung oder schlechte
Lagerung zu erklären sind. Zieht
man noch dazu in Betracht. daf! es
in diesem wie in allen anderen eng-
lischen Auktionshäusern keine Ruf-
preise und Schätzwerte in unserem
EINE KLEINE
KULTURGESCHICHTLICHE
KURIOSITÄT:
BERLINER BEFREIUNGSBECHER
1760
In österreichischem Privatbesitz tauchte
kürzlich der nebenstehend abgebildete
silberne Schnapsbecher auf. Seine Form
ist zeitlos und häufig. Wir kennen diese
Becher vor allem als russische und pol-
nische Wodkabecher des 18. Jahr-
hunderts. Interessant und sehr aktuell
ist aber die darauf gravierte Inschrift:
..176O IN 8. OKTOBER WARD BERLIN
VON DEN RUSSEN BESCHOSSEN.
DEN 9. EINGENOMMEN. DEN 10.
VERLASSEN. - DA DACHTEN WIR.
ES SEI GESCHEHEN, GOTT ABER
HÖRTE UNSERFLEHEN e ES DENCKE
DRAN, WER MICH SIEHT AN."
Eine weitere Rundschrift am oberen
waagrechten Mundrand ist in russischer
Sprache und Lettern eingeprägt: ..Pe-
tersburger Hofmünzamt". Der Becher
gehörte also zur Ausrüstung eines
russischen Offiziers des siebenjährigen
Krieges. Die Besetzung Berlins durch
russische Vorhuten und Kavallerie
dauerte gottlob nur kurz und beim
eiligen Rückzug wurde der Becher
verloren. Der Finder ließ das histori-
sche und schreckliche Ereignis zur Er-
bauung der Nachwelt eingravieren.
Heute, Anno 1962. nach mehr als
200 Jahren, ergreift uns dieses kleine
Dokument und sagt uns tröstend: Es
ist doch alles schon einmal dagewesen!
rk
Sinn gibt. fühlt man sich vollends be-
fremdet und scheint vor Rätseln hin-
sichtlich der Möglichkeit eines solchen
Betriebes zu stehen. In der über-
wiegenden Mehlzahl sind die Käufer
des Auktionsgutes Händler; praktisch
ihnen allein sind die fünfzehn bis
zwanzig Sitze an den U-förmigen
Tischen überlassen. die vor dem Ka-
theter des Auktionators stehen. Völlig
abweichend von den österreichischen
Gegebenheiten ist auch, daß die Namen
der Käufer nicht nur während der
Auktion selbst, sondern tags darauf
auch in den Zeitungen verlautbart
werden. Auch die bei uns streng
gehütete Anonymität des Verkäufers
wird in den meisten Fällen in England
nicht gewahrt: in der Praxis sieht
die Sache in London so aus. daft der
private Sammler niemals selbst kauft,
sondern einen Händler seines Ver-
trauens mit dem Erwerb des gewünsch-
ten Gegenstandes zu einem angemes-
senen Preis beauftragt, während in
Österreich die Wirkung zumindest
der großen Auktionen unmittelbar
auf den ,.Letztverbraucher" selbst ge-
richtet ist. der daher einen Gegenstand
nur dann erwirbt, wenn er sich hin-
sichtlich seines Zustandes und seinen
Verwendungsmöglichkeiten in ein-
wandfreiem Etat befindet.
Was „Sotheby's" für den kontinentalen
Besucher so besonders faszinierend
und eindrucksvoll macht, sind die
Vorgänge hinter den Kulissen. Die
zur Verfügung stehenden Baulichkeiten
sind denkbar klein und bescheiden.
der Anfall an Ware ist nicht nur quali-
tativ. sondern auch der Menge nach
ungeheuer. Das bedeutet. daß in dem
Bau in der Bond Street Raumnal
Wodka-Becher mit
Befreiungsinschrifl
dem Jahre 1760. Petersburger Hofmünz
Wiener Privalbesitz