VIKTOR FRANKL
Die illnlerei der
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Es gibt Kulturepochen und Kulturbewegungen,
deren historische Namen von gegnerischer Seite
geprägt, aber später in positivem Sinne umgedeutet
wurden: Dies war der Fall des „Mittelalters", das
von italienischen Humanisten als die dunkle Nacht
zwischen den beiden strahlenden Tagen der Kultur,
dem Altertum und der Renaissance-Neuzeit, begriffen
wurde; dies der Fall der „Gotik", deren himmelwärts
strebende Linien den an der horizontalen Gesetz-
mäßigkeit antiker Bauformen orientierten Humani-
sten als Werk der angeblich barbarischen Zerstörer
ltaliens und der antiken Kulturwelt, der Goten,
erschien; dies endlich der Fall des „Barock", dessen
Name an eine der scholastischen Logik angehörige,
komplizierte Schluß-Form erinnern sollte, um so
den Abscheu der klassizistisch gesinnten Aufklärer
vor den spannungsgeladenen, dramatisch bewegten
Bauformen des 17. Jahrhunderts auszusprechen. In
all diesen Fällen hat die neuere und neueste Ge-
scliichtsbetrachtung die mit jenen Hohnworten
bezeichneten Epochen und Bewegungen rehabilitiert
und jene Namen als Schlüsselworte höchster Kultur
begreifen gelehrt.
AuchderBegrilfderhispano-amerikanischenKolonial-
zeit - als Inbegriff einer bürokratisch gegängelten,
in leblosen scholastischen Traditionen und geistloser
Bigutterie sich bewegenden, dank der Arbeit der
Eingeborenen ein miißiges, unproduktives Dasein
fristenden Kastengesellschaft 4 ist von gegnerischer
Seite geprägt worden, und zwar von seiten der nach
Unabhängigkeit vom spanischen Mutterlande stre-
benden Aufklärer innerhalb der hispano-ameri-
kanischen Gesellschaft selber, und noch mehr von
seiten der nach Herabsetzung Spaniens und seines
iiberseeischen Werkes strebenden Aufklärer Englands
und Frankreichs. Aber im Gegensatz zu den oben
genannten Vorstellungen hat bisher keinerlei histo-
rische Kritik des überlieferten negativen Begriffs,
keinerlei vertieftes Begreifen der damit bezeichneten
(ieschichtsepoche deren negativen Sinn zu ent-
wurzeln vermocht, der das Geschichtsbewußtsein
des hispano-amerikanischen Menschen von heute
durchaus bestimmt und ihn heimatlos macht in seiner
eigenen Vergangenheit und Gegenwart, welch
letztere noch so viele Reste der Kolonialzeit in sich
birgt; noch ist es vom Standpunkte objektiver
Geschichtsforschung ein unerfülltes Desiderat, die
hispano-amerikanische Kolonialzeit und die in ihr
lebende Kultur zu „entdecken", ihre schöpferischen
Werte sichtbar zu machen, das in ihr erwachsene
Menschentum als werthaltig und weltbedeutsam
darzutun, und zwar als werthaltig und weltbedeutsam
nicht nur für ihren Lebenskreis und ihre eigene Zeit,
sondern für alle Zeiten und alle Lebenskreise. Einen
kleinen Beitrag zu dieser „Entdeckung" der hispano-
amerikanischen Kolonialzeit, und zwar vermittels
ihrer Malerei, wollen die folgenden Zeilen darstellen.
Dabei sei mir - um der Knappheit des zur Verfügung
stehenden Raumes willen - gestattet, einen etwas
ungewöhnlichen Weg zu gehen. Da ich nicht vieles
bringen, nicht eine große Anzahl von Kunstwerken
behandeln, also gleichsam von der Peripherie, der
Fülle der Erscheinungen, zum Zentrum, dem zu
erhellenden XVesen hispano-amerikanischer Kolonial-
kultur, vordringen kann, möchte ich versuchen,
vermittels der Durchleuchtung einiger weniger
charakteristischer Erscheinungen zur Erfassung dieses
Wesens zu gelangen und so vorn Zentrum aus ein
rasches Licht auf die Peripherie zu werfen. Diese
Methode hat einige Ähnlichkeit mit der von Goethe
propagierten Art der Naturforschung. Goethe sagt
(in den „Gesprächen mit Eckermann" am 16. De-
zember 1828) im Hinblick auf die jungen Natur-
forscher seiner Zeit, daß manche von ihnen „zu sehr
auf Fakta halten und deren zu einer Unzahl sammeln,
wodurch nichts bewiesen wird", daß es vielmehr
darauf ankomme, „zu Urphänomenen durchzu-
dringen und (dadurch) der einzelnen Erscheinungen
Herr zu werden", wobei die Betrachtung einiger
weniger Fakten in „theoretischem Geiste" genügt,
um durch dieselbe zur Erfassung des XVesens, zum
„Urphänomen", vorzudringen. Ich möchte also
einige wenige Werke der hispano-amerikanischen
kolonialen Malerei betrachten, um vermittels der-
selben zur Erfassung des geistigen XWesens dieser
so wenig bekannten Epoche zu gelangen; wobei ich
mich einer Gruppe von mir selbst gesammelter
und in meinem Besitz befindlicher Werke bedienen
will, die hier zum ersten Male besprochen werden.
Eine Vorbemerkung, die einiges, das Resultat sein
sollte, vorwegnimmt, wird zur Orientierung dienlich
sein. Zwei Züge verleihen der hispano-amerikanischen
Kolonialmalerei ihr eigentümliches Gepräge: einer-
seits ihr Indianismus 4 Ergebnis des starken Ein-
ilusses der eingeborenen Bevölkerung auf das
Zustandekommen der Kunstwerke 7, der sich
sowohl im Typus der dargestellten Personen wie in
dem häufigen Fehlen der seit der Frührenaissance
die europäische Malerei beherrschenden perspek-
tivischen Raumgliederung und in dem häufigen Er-
satz derselben durch ilächige Blumenornamente
zeigt; anderseits ihr Medievalismus, ihre enge Ver-
wandtschaft, nach Form und lnhalt, mit der Malerei
des europäischen Mittelalters, die sich in der Kon-
zentration auf religiöse Themen, in der Vorliebe für
einen dämonologischen Dualismus, in dem Fehlen
eines den Gegenstand in der Erde verankernden,
empirischen Raum-Hintergruntles zeigt und in der
bis weit ins 18._]ahrhundert hinein fortdauernden
„Mittelalterlichkeit" sowohl des spanischen wie des
indianischen Menschen seine Wurzeln hat. Man hat
demgemäß von einem „medievalismo mestizo",
einer „spanisch-indianischen Medievalität" der kolo-
nialen Malerei gesprochen 1), die auch die wesenhafte
VIKTOR FRANKL
Die Alfalerei der
birpano-alzlerikanisrlyen
Kolonialzeit