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Volltext: Alte und Moderne Kunst VIII (1963 / Heft 67)

VIKTOR FRANKL 
Die illnlerei der 
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Es gibt Kulturepochen und Kulturbewegungen, 
deren historische Namen von gegnerischer Seite 
geprägt, aber später in positivem Sinne umgedeutet 
wurden: Dies war der Fall des „Mittelalters", das 
von italienischen Humanisten als die dunkle Nacht 
zwischen den beiden strahlenden Tagen der Kultur, 
dem Altertum und der Renaissance-Neuzeit, begriffen 
wurde; dies der Fall der „Gotik", deren himmelwärts 
strebende Linien den an der horizontalen Gesetz- 
mäßigkeit antiker Bauformen orientierten Humani- 
sten als Werk der angeblich barbarischen Zerstörer 
ltaliens und der antiken Kulturwelt, der Goten, 
erschien; dies endlich der Fall des „Barock", dessen 
Name an eine der scholastischen Logik angehörige, 
komplizierte Schluß-Form erinnern sollte, um so 
den Abscheu der klassizistisch gesinnten Aufklärer 
vor den spannungsgeladenen, dramatisch bewegten 
Bauformen des 17. Jahrhunderts auszusprechen. In 
all diesen Fällen hat die neuere und neueste Ge- 
scliichtsbetrachtung die mit jenen Hohnworten 
bezeichneten Epochen und Bewegungen rehabilitiert 
und jene Namen als Schlüsselworte höchster Kultur 
begreifen gelehrt. 
AuchderBegrilfderhispano-amerikanischenKolonial- 
zeit - als Inbegriff einer bürokratisch gegängelten, 
in leblosen scholastischen Traditionen und geistloser 
Bigutterie sich bewegenden, dank der Arbeit der 
Eingeborenen ein miißiges, unproduktives Dasein 
fristenden Kastengesellschaft 4 ist von gegnerischer 
Seite geprägt worden, und zwar von seiten der nach 
Unabhängigkeit vom spanischen Mutterlande stre- 
benden Aufklärer innerhalb der hispano-ameri- 
kanischen Gesellschaft selber, und noch mehr von 
seiten der nach Herabsetzung Spaniens und seines 
iiberseeischen Werkes strebenden Aufklärer Englands 
und Frankreichs. Aber im Gegensatz zu den oben 
genannten Vorstellungen hat bisher keinerlei histo- 
rische Kritik des überlieferten negativen Begriffs, 
keinerlei vertieftes Begreifen der damit bezeichneten 
(ieschichtsepoche deren negativen Sinn zu ent- 
wurzeln vermocht, der das Geschichtsbewußtsein 
des hispano-amerikanischen Menschen von heute 
durchaus bestimmt und ihn heimatlos macht in seiner 
eigenen Vergangenheit und Gegenwart, welch 
letztere noch so viele Reste der Kolonialzeit in sich 
birgt; noch ist es vom Standpunkte objektiver 
Geschichtsforschung ein unerfülltes Desiderat, die 
hispano-amerikanische Kolonialzeit und die in ihr 
lebende Kultur zu „entdecken", ihre schöpferischen 
Werte sichtbar zu machen, das in ihr erwachsene 
Menschentum als werthaltig und weltbedeutsam 
darzutun, und zwar als werthaltig und weltbedeutsam 
nicht nur für ihren Lebenskreis und ihre eigene Zeit, 
sondern für alle Zeiten und alle Lebenskreise. Einen 
kleinen Beitrag zu dieser „Entdeckung" der hispano- 
amerikanischen Kolonialzeit, und zwar vermittels 
ihrer Malerei, wollen die folgenden Zeilen darstellen. 
Dabei sei mir - um der Knappheit des zur Verfügung 
stehenden Raumes willen - gestattet, einen etwas 
ungewöhnlichen Weg zu gehen. Da ich nicht vieles 
bringen, nicht eine große Anzahl von Kunstwerken 
behandeln, also gleichsam von der Peripherie, der 
Fülle der Erscheinungen, zum Zentrum, dem zu 
erhellenden XVesen hispano-amerikanischer Kolonial- 
kultur, vordringen kann, möchte ich versuchen, 
vermittels der Durchleuchtung einiger weniger 
charakteristischer Erscheinungen zur Erfassung dieses 
Wesens zu gelangen und so vorn Zentrum aus ein 
rasches Licht auf die Peripherie zu werfen. Diese 
Methode hat einige Ähnlichkeit mit der von Goethe 
propagierten Art der Naturforschung. Goethe sagt 
(in den „Gesprächen mit Eckermann" am 16. De- 
zember 1828) im Hinblick auf die jungen Natur- 
forscher seiner Zeit, daß manche von ihnen „zu sehr 
auf Fakta halten und deren zu einer Unzahl sammeln, 
wodurch nichts bewiesen wird", daß es vielmehr 
darauf ankomme, „zu Urphänomenen durchzu- 
dringen und (dadurch) der einzelnen Erscheinungen 
Herr zu werden", wobei die Betrachtung einiger 
weniger Fakten in „theoretischem Geiste" genügt, 
um durch dieselbe zur Erfassung des XVesens, zum 
„Urphänomen", vorzudringen. Ich möchte also 
einige wenige Werke der hispano-amerikanischen 
kolonialen Malerei betrachten, um vermittels der- 
selben zur Erfassung des geistigen XWesens dieser 
so wenig bekannten Epoche zu gelangen; wobei ich 
mich einer Gruppe von mir selbst gesammelter 
und in meinem Besitz befindlicher Werke bedienen 
will, die hier zum ersten Male besprochen werden. 
Eine Vorbemerkung, die einiges, das Resultat sein 
sollte, vorwegnimmt, wird zur Orientierung dienlich 
sein. Zwei Züge verleihen der hispano-amerikanischen 
Kolonialmalerei ihr eigentümliches Gepräge: einer- 
seits ihr Indianismus 4 Ergebnis des starken Ein- 
ilusses der eingeborenen Bevölkerung auf das 
Zustandekommen der Kunstwerke 7, der sich 
sowohl im Typus der dargestellten Personen wie in 
dem häufigen Fehlen der seit der Frührenaissance 
die europäische Malerei beherrschenden perspek- 
tivischen Raumgliederung und in dem häufigen Er- 
satz derselben durch ilächige Blumenornamente 
zeigt; anderseits ihr Medievalismus, ihre enge Ver- 
wandtschaft, nach Form und lnhalt, mit der Malerei 
des europäischen Mittelalters, die sich in der Kon- 
zentration auf religiöse Themen, in der Vorliebe für 
einen dämonologischen Dualismus, in dem Fehlen 
eines den Gegenstand in der Erde verankernden, 
empirischen Raum-Hintergruntles zeigt und in der 
bis weit ins 18._]ahrhundert hinein fortdauernden 
„Mittelalterlichkeit" sowohl des spanischen wie des 
indianischen Menschen seine Wurzeln hat. Man hat 
demgemäß von einem „medievalismo mestizo", 
einer „spanisch-indianischen Medievalität" der kolo- 
nialen Malerei gesprochen 1), die auch die wesenhafte 
VIKTOR FRANKL 
Die Alfalerei der 
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Kolonialzeit
	        
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