Keine Periode der abendländischen Kunst hat mit
solcher hingebender Versenkung Christus im Leiden
dargestellt als die Jahrzehnte nach 1300. Unter den
Darstellungen der Verspottung, Geißelung und
Dornenkrönung ragt jenes Bild des (iekreuzigten,
das als „Mystikerkreuz" bezeichnet wird, besonders
hervor.
Christus wird erst lange Zeit nicht leidend, sondern
segnend und im Triumphe vor das Kreuz gestellt
und nicht sosehr daran gehängt. Unzählige Christus-
iiguren in Holz, Bronze und Kupfer gegossen, gingen
dern leidenden Christus voraus. Sie waren erfüllt von
repräsentativem Gehalt weithin ohne Andeutung des
Leidens, vielmehr seiner Majestät unter dem Glanz
der Krone. Nun jedoch bringt der mystische Gefühls
strom erstmals den zermarterten, ganz Mensch ge-
wordenen Gottessohn. Die Vorstellung erwächst
einer tiefen Versenkung in seinen Opfergang. Die
Ausmalung zieht die furchtbarsten Konsequenzen,
ohne jede Reserve und ohne jeden Gedanken an
Furmschönheit und an die Darbietung des Gött-
lichen als des Edlen und Schönen, wie die Auseinr
andersetzung mit der Antike dies immer wieder
ergeben hatte. Jetzt beginnt man allein die Aufgabe
in der Darstellung des Schmerzes zu sehen. Diese
Orients zuriickverfolgenl). Ja, das Bild des Lebens-
baumes gehört zu den Urbildern der Menschheit,
umspannt in seiner Verbreitung die Welt und reicht
in der astrologischen Vorstellung bis in die Sterne.
Das Griechentum kennt Hermes am Pfahl, und die
späte germanische Vorstellung sieht Odin neun Näch-
te an der Weltenesche hängen. lrn 6. Jahrhundert
wird dann durch Venantius Fortunatus das Kreuz
zum Lebensbaum und Christus selbst als der Baum
des Lebens besungen. Dieses Bild wird endlich durch
Herald von Odilienberg (Elsaß) zur später sehr
beliebt gewordenen Legende erweitert, nach der aus
dem Lebensbaum des Paradieses, unter dem Adam
ruht, der Kreuzstamm für Christus gezimmert wird
(P. della Francescas Fresken in Arezzo). Erst nach
dem Einbruch der franziskäischen Schau wird aus
der Betonung des Menschlichen in Christus die
Darstellung des zermarterten Christus möglich, was
der feudalistischen mittelalterlichen Vorstellungswelt
hätte als Verhöhnung scheinen müssen. Nun erst
kann der Wanderprediger vom Bodensee, der
mystische Lyriker Heinrich Seuse (Suso) als Schüler
Eckeharts in Köln - und eben in diesem Raum
sind die Astkreuze zuerst entstanden und am ver-
breitetsten -, Christus sprechen lassen:
in der karlrumgsprozxxsxorl
Einstellung erhält ihren letzten Sinn im Echo des
von Mitgefühl überwältigten Betenden. Nun wird
Form, was schon im 12. Jahrhundert Anselm von
Canterbury aus Aosta in seiner Satisfaktionstheorie
als „vollkommenstes Opfer" gesehen, wird weithin
sichtbar, was deutsche Mystiker erschauten, was
ihnen die „Leidensgestalt zum dichterischen Gefühls-
gefäß" (W. Pinder) werden ließl).
Die dichterischen Wurzeln des Astkreuzes, an dem
der Heiland hängt, reichen noch viel weiter zurück,
sie lassen sich bis in die Mythusbilder des alten
„Da irh an; haben Arte deJ Kreuze: fiir Dirh und alle
Alenrrhen am endloxer Liebe hing, da ward nleine (ganze
Gexlalt gar järnrnerlieh verwandelt, denn mein göttlich
Haupt war van Xrhrnerg und Ungernaeh geneigt, nlein
reehler Arm war gerrpannl und mein linker gar Jehrnerg-
hafl gerdehnt, mein heiße: Blut nahm in meinen Nälen gar
manchen wilden Ausbruch, daran mein Jlerbender Leib
rerrannen und blutig war. Äleine reine Farbe erbleiehle.
Sieh, da errtarb meine Schönheit gang und gar, ülf ab irh
ein Aaxrätgiger und alr ab ich die Jrhäne W'ei.rheit nie
geweun wäre."
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