Diese Worte sind Christus als Selbstbetrachtung in
den Nlund gelegt. Ein innerlicher Vorgang wird
durchaus neuartig xiergegenwiirtiggund hieraus be-
greifen wir, warum nicht nur die Schmerzens-
darstellung des Christ am Astkreuz, die diesem Texte
wörtlich folgt, und damit„der Verlust der Schönheit"
kommen mußte. Diese Wendung ist beispiellos
revolutionär e durch Christus selbst muß sie ihre
Legitimierung erhalten, und lange nicht alle christ-
lichen Völker wagten diese Form aufzunehmen. VCie
alle Höhepunkte künstlerischer Aussage (hier auch
im Sinne von Expressionismus) währen ihre Tage
der Blüte meist kaum länger als drei Jahrzehnte.
Der Christus, von dem Franz von Assisi sich ange-
sprochen weiß, hat noch die Schönheit, die die
Weisheit versinnbildlicht, nun ist der Christus, der
bisher die „Sonnenschönheit Apollos" weitergetragen
hatte, vor der neuen Schau versunken. Der Gotiker
sieht den Verlust der Schönheit als Mittel, die Tiefe
des Opfers voll verständlich zu machen, auch wenn
es gegen das bisher herrschende Schönheitsideal
verstößt. Nur jungen, glaubensstarken Völkern liegt
es, hier mitzugehen und diese verrenkte und zerfetzte,
verkrümmte und ausgezehrte Gestalt neu und in
ganzer tiefer Hingabe zu gestalten.
Das bedeutendste Stück, das ich jemals antraf, be-
findet sich nun nicht in Deutschland, sondern in
Perpignan, einer Stadt in der fruchtbaren Roussillon,
einem Gebiet, das erst vor dreihundert Jahren zu
Frankreich kam und kulturell noch heute seine
spanische Herkunft nicht leugnen kann. Dem dortigen
4 „Devot Chrucifix" wollen wir einige Zeilen widmen,
weil seine Datierung und kunsthistorische Einrei-
hung e typisch für weite Strecken der französischen
Kunstgeschichte - eine Klarstellung verlangt.
Die lebensgroße, stark gedunkelte llolzplastik wird
während der Osterprozession von Männern in
spanischer Kapuzentracht 7 wohl der Bruderschaft
der Kirche Saint Jean (wo das Kreuz auf einem
Altar steht) 7 liegend mitgetragen.
Es ist die künstlerische Spitzenleistung eines ganz
erstrangigen, ausgesprochen neuschöpferischen
Künstlers von einer rücksichtslosen Expressivität,
der auf keine Werkstatttradition greifen kann, weil
sein Christustyp neu ist (Abb. 173).
Woher stammt der Meister? Welchem Volke gehört
er an? Abgesehen davon, daß es am nächsten läge,
für solch einen Auftrag einen bekannten Meister
der Gegend zu wählen, liefert die spanische Kunst-
geschichte bis in die Gegenwart immer wieder
Künstler mit diesem charakteristischen Zug kühner
Rücksichtslosigkeit 3). Ein Katalonier wäre also am
naheliegentlsten, fänden sich in Spanien ähnliche
Stücke, diese jedoch fehlen durchaus, der spanische
Typ ist durch die vom Kreuz gelöste herabhängende
Rechte gekennzeichnet. Schnitzer aus Flandern
kommen erst im 15. und 16. Jahrhundert in Frage,
wo sie Spanien überfluten. Eine Stadt wie Valencia
zum Beispiel hatte damals 12 ilämische Werkstätten,
die trotz ihrer spanischen Gehilfen nicht den Riesen-
aufträgen nachkommen konnten. Im weiteren Süd-
frankreich ist cin Astkreuz eine Seltenheit, schon
s deshalb, weil es weithin gegen das starke antike Erbe
u.
Perpignan, Karhedralc St. Jean Uapri
Mystikcr-Kruzitixus 4.6 Devot (um
Kolner Meister, 1307
St. Savm. sudlith Lourdes m den Py
Mysrikcr-Kruziüxus. 14. m.
Moissac, Kirche St. Picrrc.
seltene Fomz eines Astkreuzes:
Christus vor der mystischen Zcil