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Volltext: Alte und Moderne Kunst VIII (1963 / Heft 67)

Diese Worte sind Christus als Selbstbetrachtung in 
den Nlund gelegt. Ein innerlicher Vorgang wird 
durchaus neuartig xiergegenwiirtiggund hieraus be- 
greifen wir, warum nicht nur die Schmerzens- 
darstellung des Christ am Astkreuz, die diesem Texte 
wörtlich folgt, und damit„der Verlust der Schönheit" 
kommen mußte. Diese Wendung ist beispiellos 
revolutionär e durch Christus selbst muß sie ihre 
Legitimierung erhalten, und lange nicht alle christ- 
lichen Völker wagten diese Form aufzunehmen. VCie 
alle Höhepunkte künstlerischer Aussage (hier auch 
im Sinne von Expressionismus) währen ihre Tage 
der Blüte meist kaum länger als drei Jahrzehnte. 
Der Christus, von dem Franz von Assisi sich ange- 
sprochen weiß, hat noch die Schönheit, die die 
Weisheit versinnbildlicht, nun ist der Christus, der 
bisher die „Sonnenschönheit Apollos" weitergetragen 
hatte, vor der neuen Schau versunken. Der Gotiker 
sieht den Verlust der Schönheit als Mittel, die Tiefe 
des Opfers voll verständlich zu machen, auch wenn 
es gegen das bisher herrschende Schönheitsideal 
verstößt. Nur jungen, glaubensstarken Völkern liegt 
es, hier mitzugehen und diese verrenkte und zerfetzte, 
verkrümmte und ausgezehrte Gestalt neu und in 
ganzer tiefer Hingabe zu gestalten. 
Das bedeutendste Stück, das ich jemals antraf, be- 
findet sich nun nicht in Deutschland, sondern in 
Perpignan, einer Stadt in der fruchtbaren Roussillon, 
einem Gebiet, das erst vor dreihundert Jahren zu 
Frankreich kam und kulturell noch heute seine 
spanische Herkunft nicht leugnen kann. Dem dortigen 
4 „Devot Chrucifix" wollen wir einige Zeilen widmen, 
weil seine Datierung und kunsthistorische Einrei- 
hung e typisch für weite Strecken der französischen 
Kunstgeschichte - eine Klarstellung verlangt. 
Die lebensgroße, stark gedunkelte llolzplastik wird 
während der Osterprozession von Männern in 
spanischer Kapuzentracht 7 wohl der Bruderschaft 
der Kirche Saint Jean (wo das Kreuz auf einem 
Altar steht) 7 liegend mitgetragen. 
Es ist die künstlerische Spitzenleistung eines ganz 
erstrangigen, ausgesprochen neuschöpferischen 
Künstlers von einer rücksichtslosen Expressivität, 
der auf keine Werkstatttradition greifen kann, weil 
sein Christustyp neu ist (Abb. 173). 
Woher stammt der Meister? Welchem Volke gehört 
er an? Abgesehen davon, daß es am nächsten läge, 
für solch einen Auftrag einen bekannten Meister 
der Gegend zu wählen, liefert die spanische Kunst- 
geschichte bis in die Gegenwart immer wieder 
Künstler mit diesem charakteristischen Zug kühner 
Rücksichtslosigkeit 3). Ein Katalonier wäre also am 
naheliegentlsten, fänden sich in Spanien ähnliche 
Stücke, diese jedoch fehlen durchaus, der spanische 
Typ ist durch die vom Kreuz gelöste herabhängende 
Rechte gekennzeichnet. Schnitzer aus Flandern 
kommen erst im 15. und 16. Jahrhundert in Frage, 
wo sie Spanien überfluten. Eine Stadt wie Valencia 
zum Beispiel hatte damals 12 ilämische Werkstätten, 
die trotz ihrer spanischen Gehilfen nicht den Riesen- 
aufträgen nachkommen konnten. Im weiteren Süd- 
frankreich ist cin Astkreuz eine Seltenheit, schon 
s deshalb, weil es weithin gegen das starke antike Erbe 
u. 
Perpignan, Karhedralc St. Jean Uapri 
Mystikcr-Kruzitixus 4.6 Devot (um 
Kolner Meister, 1307 
St. Savm. sudlith Lourdes m den Py 
Mysrikcr-Kruziüxus. 14. m. 
Moissac, Kirche St. Picrrc. 
seltene Fomz eines Astkreuzes: 
Christus vor der mystischen Zcil
	        
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