Günther zurückgehenden Goldschmiedearbeiten, die
unserer Meinung nach in der ersten Hälfte der
sechziger Jahre, jedenfalls bestimmt vor 1767, ent-
stand, da in diesem Jahre noch die Krone hinzugefügt
wurde 5). Sie steht, wie man sieht, stilistisch zwischen
der Atteler und der neu entdeckten Madonna. Gegen-
über der ersteren noch wesentlich räumlicher emp-
fundenen Figur ist diese bedeutend flächiger gehalten
und zur Einansicht tendierend, was bei Günther ein
wichtiges Faktum zur Datierung seiner Werke dar-
stellt. Die Eingliederung des letzteren Stückes in das
übrige VUerk des Münchener Meisters ergibt sich
aber auch noch durch einen anderen, stilistisch sehr
aufschlußreichen Vergleich mit einem bisher un-
veröffentlichten, aus Lindenholz geschnitzten und
ganz vergoldeten lrnmakulata-Relief 111 cm). Es
gehört als letzte Darstellung zu einem insgesamt
16 Stück umfassenden marianischen Zyklus von
Chorgestühlreliefs in der Münchener Frauenkirche
(1774) 5). Diese Arbeiten gehören zu den letzten
erhaltenen Werken Günthers, der ein knappes Jahr
nach ihrer Vollendung starb. Bei aller stilistischen,
typologischen und motivischen Verwandtschaft, die
bis in die Details 4 z. B. bei dem an der gleichen
Stelle im Mantel in Erscheinung tretenden Putten-
köpfchen - spürbar werden, ist doch evident, daß
die bisher unbekannte Madonna keinesfalls in den
Bereich dieses kantigen verhärteten Faltenstiles mit
seiner metallischen Kalligraphie und seiner zur Manier
gewordenen Parallelisierung der Gewandfalten ge-
hört, die eine allerletzte Phase im Werk Günthers
darstellt. Wie bei so vielen Künstlern des Barock
gibt es auch bei diesem Bildhauer auffallende Typus-
Wiederholungen. So verwendet er „den" Immakulata-
Typus, den wir bereits in seinen bedeutendsten
Beispielen kennengelernt haben, dann „den" Mater-
Dolorosa-Typus, „die" Engels-Pietä- und Kruzifix-
Darstellungen. Merkwürdigerweise wurde bisher
noch niemals die wichtige Frage aufgeworfen, woher
der für Ignaz Günther so überaus charakteristische
Immakulata-Typus abzuleiten ist. Es sind für die
Gesamtfiguration und gesondert für den Kopftypus
zwei bisher unerkannte, aus der Malerei und Plastik
stammende Vorbilder nachzuweisen, die ihrerseits
nicht miteinander in Verbindung stehen und beide
aus ganz verschiedener Zeit stammen. Was die erstere
anbetrifft, so ist die Günther unmittelbar vorausge-
hende venezianische Malerei des 18. Jahrhunderts mit
Sicherheit ihr Ausgangspunkt. Daß gerade die Kunst
Venedigs das typusmäßige Vorbild für diese Werke
des in München arbeitenden Rokokobildhauers ab-
gab, ist angesichts der zwischen den beiden Kunst-
kreisen bestehenden engen Beziehungen nicht ver-
wunderlich, wenngleich diese für die Malerei des
Rokoko wesentlich offener zutage treten als es bei
der Plastik zur Zeit Günthers der Fall ist. Am näch-
sten kommt diesem in Rede stehenden Günthertypus
ein bisher unbekanntes, um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts zu datierendes, sehr ausdrucksvoll gemaltes
Bild von Giovanni Antonio Guardi (1698A1760), das
früher in französischem Privatbesitz war (ÖljLuu;
110x97 cm). Es geht wiederum auf eine von
Sebastiano Ricci im Jahre 1732 geschaffene Immaku-
lata zurück, die sich früher als Altarbild in S. Vitale
in Venedig befand (heute in der Akademie-Galerie) 7).
Das mit Händen zu greifende venezianische Vorbild,
das vor allem für die Struktur der Gewandfalten
Günthers mit ihrer das Standmotiv der Figur ent-
wertenden schwingenden mittleren Diagonale und
der darnit verbundenen Vertikalisierung der Falten-
drapierung von entscheidender Bedeutung ist, hat
im Werk des Bildhauers auch sonst seine deutlich
sichtbaren Spuren hinterlassen. So folgt ihm darin
die Gestalt der zum Himmel auffahrenden Maria
mit ihren weit ausgebreiteten Armen auf dem Relief
in der Schloßkapellc zu Sünching (1760) fast wört-
lich. Dazu gibt es bei ihm etwa gleichzeitige und
später entstandene Varianten des gleichen Typus in
Gestalt einer knienden lmmakulata in Berlin und im
Gegensinn bei der Figur des apokalyptischen Weibes
auf dem Aufsatz des Hochaltares in hlallersdorfg).
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch eine
bisher unveröffentlichte Zeichnung des Bildhauers,
auf der die Skizze einer auf der Weltkugel knieenden,
von Engeln und einem Strahlenkranz umgebenen
lmmakulata im Gebet wiedergegeben ist, von der
eine Ausführung nicht bekannt ist oder sich nicht
erhalten hat9). Der Vergleich der kleinformatigen
Immakulata-Gestalten Günthers mit der Guardi-
Komposition ist sehr aufschlußreich, insofern, als
das vergleichsweise schwere Pathos mit seiner
dramatisch zugespitzten Attitüde und dem zum
Himmel gerichteten theatralischen Blick von dem
Münchener Bildhauer nicht mit übernommen wurde.
Er stand dem von ihm selbst erwählten oder von
seinen jeweiligen Auftraggebern gewünschten italie-
nischen Vorbild in einer bestimmten inneren
Distanzierung gegenüber. Dies gilt vor allem für die
Wahl seines Kopftypus, bei dem Ignaz Günther in
künstlerischer Freiheit überraschenderweise auf ein
ganz anderes, nicht aus dem 18. Jahrhundert stam-
mendes Vorbild zurückgriif. Der bei Günther zu
findende, typologisch genau erfaßbare, auffallend
klein gebildete Madonnenkopf, mit seinem glatt
anliegenden, in der Mitte gescheitelten Haar, mit
seinem seitlich geneigten Haupt und dem abwärts
gerichteten Blick geht eindeutig auf einen „klas-
sischen" Archetypus zurück, der von Frangois Du-
quesnoy gen. il Fiammingo um 1630 in Rom mit
seiner hl. Susanna in S. Maria in Loreto geschaffen
wurde. Der in Frage kommende Kopftypus ver-
breitete sich freilich weniger von der großen Figur
mit ihrer „klassischen" Gewanddrapierung aus als
vielmehr von einer auch noch heute in mehreren
Exemplaren nachweisbaren eigenhändigen Reduktion
in Form einer kleinen Bronzebüste (H. 23,5 cm) 10).
Joachim von Sandrart nennt sie „sehr anmutig,
kunstreich" und setzt hinzu: „gegossen zu Rom"11).
In typusmäßiger Abwandlung gibt es dazu vom
gleichen Künstler zwei ebenfalls mehrfach nach-
zuweisende eigenhändige kleine Bronzebüsten, die
schon von Bellori erwähnt wurden. Sie werden als
Madonna und jugendlicher Christus bezeichnet. Es
ist wirklich verblüffend, zu sehen, wie eng Günther
bei der Wiedergabe seiner Madonnenköpfe in der
Haltung des kleinen, seitlich leicht geneigten Hauptes,
in der Haartracht und in der Augenstellung sich an
das noch im 18. Jahrhundert berühmte Duquesnoy-
sche Vorbild anlehnte, was auch für die ausdrucks-
mäßige Haltung dieser Stücke gilt. Die Duquesnoy-
Bronzebüsten lernte Ignaz Günther mit einer an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit über die
Vermittlung der Akademie in Wien kennen, wo es
von beiden Werken je ein - aus altem k. u. k. Hof-
besitz stammendes 7 Exemplar gibt, die sich heute
im dortigen Kunsthistorischen Museum befinden.
Unsere Madonnenstatuette und das im Jahre 1774
entstandene Chorgestühlrelief in der Münchener
Frauenkirche stimmen gegenüber der Atteler Im-
makulata und der lngolstädter Silbermadonna mo-
tivisch darin überein, daß bei den beiden ersteren
Figuren auf der linken Mantelinnenseite das paus-
s lgnzz Günther. lmmakulata, 1714,
n. m cm. München, Frauenkirche