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Volltext: Alte und Moderne Kunst VIII (1963 / Heft 71)

folkloristischen Charakter, der das orientalische Element merklich 
verstärkt. Da sich der orientalische kalligraphische Zug mit der spät- 
antiken skizzenhaften Pinselführung wohl verträgt, ergeben sich so 
reizvolle Werke von eigenartiger Wirkung. 
Und dennoch müssen wir auch bei der russischen Kunst immer wieder 
auf das antike Erbe hinweisen. Es wird aus Einzelheiten ersichtlich. 
S0 zeigt die Landschaft des Hintergrundes bei Ikonen keineswegs die 
russische Ebene, aber auch nicht eine Abstraktion, deren Original 
wir nicht zu benennen wüßten: es ist die Felslandschaft von Griechen- 
land, Palästina und Kappadokien. Sie trägt antike Saulenhallen und 
griechische Zypressen 7 erst Cirin malt die russischen Kiefern in 
seine orientalisierten Landschaften . . .1 Oder aber man vergleiche die 
Kleidung. Betrachtet man abendländische Heiligenbilder - barock, 
nazarenisch, akademisch oder auch modern 7-, dann findet man die 
Heiligengestalten in badetuchähnliche Drapierungen gewickelt; auf 
der geringsten dörflichen Ikone tragen Gottesmutter und Apostel 
genau den Faltenwurf antiker griechischer Tracht. Ja, auch der Heiligen- 
schein, den wir doch zunächst für das bezeichnende Merkmal der 
irrealen, hieratischen Kunstübung halten möchten - er ist zwar in 
der Tat in Byzanz als Darstellung des iiberirdischen Glanzes gedacht, 
der historisch mit der Himmelslichtstrahlung, dem Hoheitsfeuer der 
iranischen Weltanschauung zusammenhängt -, ist dennoch auf ein 
malerisches Ausdrucksmittel der antiken Porträtkunst zurückzuführen. 
Warum ist es nun so wichtig, dieses antike Erbe der Ikonenkunst 
nachdrücklichst zu erklären? i In der heutigen Geschichtsschreibung 
wird viel psychologisiert; und besonders in der Kunstgeschichte liegt 
die Gefahr nahe, anstelle von konkretem Quellenstudium abstrakte 
Geistesgeschichte zu treiben. Nirgends aber ist der Mißbrauch ge- 
läufiger Allgemeinheiten, eHiektvoller Antithesen so üblich wie beim 
Thema Rußland. Die augenfällige Tatsache, daß Rußland in vielem 
zum Abendland im Gegensatz steht oder stand, scheint der unum- 
schränktesten Auswertung fähig. Da möchte man meinen, der mar- 
xistische Begriff einer „Geschichte der materiellen Kultur" wäre für 
manchen Kunsthistoriker zumindest ein nötiges Gegengift; die marxi- 
stische Suche nach feststellbaren materiellen Gründen für jede Ent- 
Wicklung wäre keine schlechte Arbeitsmethode . . . 
Und wahrhaftig! Auf diesem Wege wird man zu keiner geringen Ein- 
schätzung der ikonenkunst kommen. Die handwerkliche Tradition 
führt uns ja geradewegs „nach dem Lande, auf das die Sonne des 
Homeros schienl". Auch wird die Bedeutung geistesgeschichtlicher 
Erkenntnisse durch diese, wie wir vorhin sagten, wesentliche Fest- 
stellung nicht verkleinert. Die Geistesgeschichte hilft uns verstehen, 
wie diese Kunst griechisch ist, aber nicht heidnisch; schönheitsdurstig, 
aber nicht sinnenfreudig in des Worts erotischer Bedeutung. Nicht 
die niedere Sinnenfreude, sondern die Freude der Augen und des 
Geistes soll hier geschöpft werden. Eine Venus im lkonenstil ist nicht 
denkbar; dennoch ist diese Kunst nicht puritanisch. Sie ist platonisch: 
Vollendung, Vollkommenheit und Geistigkeit sind eins. 
Für diese Kunst, für diesen Geist ist das (iute und Wahre zugleich 
das Schöne. 
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