folkloristischen Charakter, der das orientalische Element merklich
verstärkt. Da sich der orientalische kalligraphische Zug mit der spät-
antiken skizzenhaften Pinselführung wohl verträgt, ergeben sich so
reizvolle Werke von eigenartiger Wirkung.
Und dennoch müssen wir auch bei der russischen Kunst immer wieder
auf das antike Erbe hinweisen. Es wird aus Einzelheiten ersichtlich.
S0 zeigt die Landschaft des Hintergrundes bei Ikonen keineswegs die
russische Ebene, aber auch nicht eine Abstraktion, deren Original
wir nicht zu benennen wüßten: es ist die Felslandschaft von Griechen-
land, Palästina und Kappadokien. Sie trägt antike Saulenhallen und
griechische Zypressen 7 erst Cirin malt die russischen Kiefern in
seine orientalisierten Landschaften . . .1 Oder aber man vergleiche die
Kleidung. Betrachtet man abendländische Heiligenbilder - barock,
nazarenisch, akademisch oder auch modern 7-, dann findet man die
Heiligengestalten in badetuchähnliche Drapierungen gewickelt; auf
der geringsten dörflichen Ikone tragen Gottesmutter und Apostel
genau den Faltenwurf antiker griechischer Tracht. Ja, auch der Heiligen-
schein, den wir doch zunächst für das bezeichnende Merkmal der
irrealen, hieratischen Kunstübung halten möchten - er ist zwar in
der Tat in Byzanz als Darstellung des iiberirdischen Glanzes gedacht,
der historisch mit der Himmelslichtstrahlung, dem Hoheitsfeuer der
iranischen Weltanschauung zusammenhängt -, ist dennoch auf ein
malerisches Ausdrucksmittel der antiken Porträtkunst zurückzuführen.
Warum ist es nun so wichtig, dieses antike Erbe der Ikonenkunst
nachdrücklichst zu erklären? i In der heutigen Geschichtsschreibung
wird viel psychologisiert; und besonders in der Kunstgeschichte liegt
die Gefahr nahe, anstelle von konkretem Quellenstudium abstrakte
Geistesgeschichte zu treiben. Nirgends aber ist der Mißbrauch ge-
läufiger Allgemeinheiten, eHiektvoller Antithesen so üblich wie beim
Thema Rußland. Die augenfällige Tatsache, daß Rußland in vielem
zum Abendland im Gegensatz steht oder stand, scheint der unum-
schränktesten Auswertung fähig. Da möchte man meinen, der mar-
xistische Begriff einer „Geschichte der materiellen Kultur" wäre für
manchen Kunsthistoriker zumindest ein nötiges Gegengift; die marxi-
stische Suche nach feststellbaren materiellen Gründen für jede Ent-
Wicklung wäre keine schlechte Arbeitsmethode . . .
Und wahrhaftig! Auf diesem Wege wird man zu keiner geringen Ein-
schätzung der ikonenkunst kommen. Die handwerkliche Tradition
führt uns ja geradewegs „nach dem Lande, auf das die Sonne des
Homeros schienl". Auch wird die Bedeutung geistesgeschichtlicher
Erkenntnisse durch diese, wie wir vorhin sagten, wesentliche Fest-
stellung nicht verkleinert. Die Geistesgeschichte hilft uns verstehen,
wie diese Kunst griechisch ist, aber nicht heidnisch; schönheitsdurstig,
aber nicht sinnenfreudig in des Worts erotischer Bedeutung. Nicht
die niedere Sinnenfreude, sondern die Freude der Augen und des
Geistes soll hier geschöpft werden. Eine Venus im lkonenstil ist nicht
denkbar; dennoch ist diese Kunst nicht puritanisch. Sie ist platonisch:
Vollendung, Vollkommenheit und Geistigkeit sind eins.
Für diese Kunst, für diesen Geist ist das (iute und Wahre zugleich
das Schöne.
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