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Volltext: Alte und Moderne Kunst IX (1964 / Heft 77)

PETER BAUM 
Ein 1955 von einigen Idealisten mit viel Enthusiasmus und gründlicher Sachkenntnis 
begonnenes.1959 mitder .,documenta ll" und in diesem Jahr mitder..documentalll" 
erfolgreich fortgesetztes Ausstellungsprojekt machte Kassel zu einem Weltzentrum 
moderner Kunst. 
Die ..documenta lll". die größte und wichtigste Kunstausstellung der letzten Jahre. 
nimmt in mehr als 1100 größtenteils erstrangigen Beispielen Bezug auf Geschichte 
und Gegenwart der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts. Dem einfachen Motto 
zufolge. .,daß Kunst das ist. was bedeutende Künstler schaffen". wird ..ohne vor- 
gelaßte Absicht der Verknüpfung Werk neben Werk gestellt. Individualität neben 
Individualität". Verbindungen mit den einzelnen Persönlichkeiten aufzunehmen 
und sie zu diskutieren ist Aufgabe des Publikums. In den Kabinetten der Alten 
Galerie Schöne Aussicht werden 29 ..Meister der Kunst des Z0. Jahrhunderts" mit 
jeweils 10 bis 20 Werken vorgestellt. Pioniere der Moderne. wie die Plastiker Arp. 
Brancusi. Gonzales. Lehmbruck und Moore, die Maler Braque. Max Ernst. Giaco- 
metti. Kandinsky. Klee. Kokoschka und Picasso oder der große Einzelgänger 
Kurt Schwitters. dessen Arbeiten gerade heute von besonderer Aktualität sind. 
Ebenfalls in der Alten Galerie ist eine in dieser Vollständigkeit noch niemals erreichte 
Ausstellung bedeutender Handzeichnungen untergebracht. die in rund 500 Bei- 
spielen Entwicklung und Wege der Graphik von 1880 bis 1963 aufzeigt. Im Haupt- 
und Obergeschoß des Museums Fridericianum und in der Orangerie. wo die 
Plastik gezeigt wird. begegnet man den stärksten Künstlerpersönlichkeiten der 
Gegenwart. Unter Bedachtnahme auf die Wechselwirkungen von Bild und Raum 
wurde in dieser Abteilung manches interessante Experiment gewagt. das erfolg- 
versprechende Möglichkeiten in sich birgt. .,Aspekte 1964" wurde schließlich 
diejenige Abteilung benannt. die mit den aussichtsreichsten Werken der jüngsten 
Gegenwart konfrontiert. 
Gegenüber der Biennale von Venedig. die vorwiegend Messecharakter besitzt - 
jedes Land wühlt selbst seinen Beitrag aus und tritt damit in Konkurrenz zu den 
anderen w. also notgedrungen unter Konzeptlosigkeit leidet. bemüht sich die 
,.documenta" auch immer wieder um das Sichtbarmachen größerer Zusammen- 
hänge. 
Den schöpferischen Reichtum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. der die 
bildende Kunst des 7.0. Jahrhunderts ll'l so entscheidender Weise auszeichnet. unter 
zusammenfassenden. auf die Gewinnung von Maßstäben abzielenderi Gesichts- 
punkten zu repräsentieren. wird auf der „documenta" sinnvoll im Rahmen des 
Möglichen praktiziert. Den Überblick zu wagen. ohne der Kunst deshalb theore- 
tische Zwangsjacken anzulegen und ahne sie in oft nur allzu gewollte historische 
Zusammenhänge zu bringen. scheint für den verantwortungsbewußlen und mutigen 
Mittler - und das ist die ..documenta" auf breitester Basis - unerläßlich. Daß 
man sich nicht scheut. selbst Extremfälle in die Diskussion miteinzubeziehen. über 
die noch reichlich Unklarheiten bestehen. ist eines der markantesten Merkmale 
dieser begrüßenswerten Ausstellungstätigkeit. 
Die ,.documenta" unterscheidet sich also nicht nur durch Qualität und Größe von 
Ausstellungen ähnlicher Art. sondern vor allem durch den Mut. das ganz Neue 
kompromißlos aufzugreifen. Nicht den Lehrmeister zu spielen und dem Publikum 
einreden zu wollen. was aus dem heutigen Schaffen als Kunst herausragt. ist Aufgabe 
und Zielsetzung. sondern die freie Diskussion darüber zu ermöglichen. Eine Dis- 
kussion. die sich beinahe über die ganze Welt erstreckt. vor Grenzen nicht halt- 
macht und jene organisch gewachsene Internotionalität in der modernen Kunst 
erkennen läßt, in der einer der Hauptunterschiede zu allen früheren Epochen 
liegt. 
Kernstück: 500 Handzeichnungen. Den der modernen Kunst zugrunde liegenden 
Anschauungen in spontaner Unmittelbarkeit zu begegnen, ermöglicht die gewifi 
einzigartige Ausstellung von 500 Zeichnungen. Mit sicherem Griff wurde ausge- 
wählt und alles Mittelmäßige oder gar Epigonale ausgeschaltet. Sicherlich wird 
man den einen oder anderen Namen vermissen - diese Feststellung betrifft auch 
die Auswahl der Malerei und Plastik e. doch läßt es sich bei derart umfangreichen 
Zusammenstellungen kaum vermeiden. daß etwa gleichrangige Künstler gegen- 
einander ausgespielt werden. Alle wirklich entscheidenden. am Anfang einer 
neuen Entwicklungsphase stehenden Maler und Graphiker. wie z. B. Cezanne. 
Van Gogh. Toulouse-Lautrec. Munch. Picasso. Matisse. Chagall, Klee. Beckmann, 
Kirchrier. Chirico, Braque. Ensor. Max Ernst. Kandinsky. Masson. Pollock und 
Wols. sind jedoch ausreichend berücksichtigt worden. Die moderne Handzeichnung, 
die mehr als je zuvor selbständigen Charakter besitzt und das Ureigenste einer 
Persönlichkeit in der Regel noch unmittelbarer als die Malerei erkennen läßt. wird 
in dieser eindrucksvollen Auswahl in ihren markantesten Stadien festgehalten und 
zu einem großen und lehrreichen Gesamtbild vereint. 
Entsprechender österreichischer Beitrag. Geglückt ist auch die Auswahl im Hinblick 
auf Österreichs bedeutendste Zeichner dieses Jahrhunderts. Unter den durchweg 
aus ausländischem Besitz stammenden Blättern Kokoschkas ragen die ..Drei 
Mädchenakte" aus 1907 sowie das um 1910 entstandene Porträt von Karl Kraus 
besonders hervor. Von Alfred Kubin. dessen iiberreiches Schaffen erst heute rich- 
tiger eingeschätzt wird. sieht man fünf typische Zeichnungen aus dem Zeitraum 
von 1903 bis 1925. Von Gustav Klimt werden drei Arbeiten ausgestellt. von Egon 
Schiele vier nicht minder überzeugende. in der Regel aquarellierte Darstellungen. 
Von den jungen Österreichern fand als einziger Wolfgang Hollegha in diese 
illustre Gesellschaft Eingang. 
Bissier. Giacometti, Nicholsan. Marini. Nay. Fassbender. Matta. Dubuffet reprä- 
sentieren neben vielen anderen die ältere Generation der Zeitgenossen. Asger 
Jorn. Vedova. Sonderborg. Trökes. Schultze. Masurovsky und Lucebert die jüngere. 
In der naturgemäß zur Diskussion herausfordernden Auswahl der Jüngeren hätte D 
gerade weil seine Zeichnungen. besser gesagt Überzeichnungen. einen strittigen 
Extremfall darstellen -- der Österreicher Arnulf Rainer genousowenig übergangen 
werden sollen wie der Deutsche Herbert Baumann bzw. der Wiener Karl Prantl 
in der Plastik. 
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Für 100 Tage Zentrum moderner Kunst - Eindrücke von der ,.documenta III" in Kassel 
Pop-Art bleibt auf der Strecke. Die umstrittenste Kunstform oder - vorsichtiger 
ausgedrückt 4 Bildnerei. die von cleveren Kunsthändlern tüchtig gemanagt wird. 
ist gegenwärtig unzweifelhaft die Pop-Art. jene ohne den Dadaismus undenkbare 
Richtung mit gelegentlichen Querverbindungen zum Surrealismus und Action- 
Painting. die sich 7 so hieß es kürzlich in der deutschen Zeitschrift ..das kunstwerk" 
7 "für die pure Präsentation von Elementen der modernen Werbe- und Konsumwelt 
interessiert". 
In Venedig gibt es auf der Biennale so viel Pop-Art. daß einem dabei der Appetit 
vergeht. in Kassel fällt sie kaum auf. und wenn. dann ohne zu überzeugen. Einiger- 
maßen interessant wirken nur Kitay und Larry Rivers. eventuell noch Rauschen- 
berg. 
Den hier Genannten begegnet man zusammen mit den anderen Vertretern der 
jüngeren Generation in den ..Aspekten 1964", jener im Fridericianum unter- 
gebrachten Abteilung. die in Verbindung mit der aufschlußreichen. den Licht- 
und Bewegungskünstlern eingerichteten Schau die aktuellsten Tendenzen der 
Gegenwart vorstellt. Qualität haben hier unter anderem die in dunklen Farben 
gehaltenen Abstraktionen Berniks. die dynamischen Bilder Brünings. die großen 
Stahlplastiken Erich Hausers. die in dieser Umgebung beinahe schon konventionell 
anmutenden Bilder von Spyropoulos. die folkloristisch inspirierten Malereien des 
Jugoslawen Sustarsic. die Plastiken von Szymanski. Bilder Wienerts und Küchen- 
meisters. Die Plastiken des jung verstorbenen Österreichers Andreas Urteil be- 
haupten sich überzeugend. die großen Malereien Holleghas und Mikls halten stand. 
Goeschl scheint mit seinen bemalten Holzskulpturen einen Schritt vorwärts gemacht 
zu haben. doch man bleibt weiterhin reserviert. 
Zukunltsreiche Experimente. In den kleinen Kabinetten des Dachbodens experi- 
mentiert man erfrischend und einfallsreich mit Licht und Bewegung. Das Spiel 
schließt hier den Ernst nicht aus 7 eine Synthese mit echten Zukunftschancen! 
Diese Proteste gegen die Zwangsjacken der Architektur. gegen das unmenschliche 
Kollektiv. diese geistreichen. humorvollen Improvisationen sollten von Architekten 
und öffentlichen Bauherren. an die sie sich in erster Linie richten. endlich auf- 
gegriffen werden. da sie mithelfen könnten. unser Leben auf heitere Weise zu 
bereichern. Ob man die Chance. die sich hier bietet. entsprechend erkennt? 
Malerei und Plastik im Raum. Als ..ldealfalI einer Galerie für moderne Malerei 
und Skulptur. in der die Kräfte und Strömungen zeitgenössischer Kunst in straffer 
Auswahl zur Anschauung kommen solIen". ist die Ausstellung im Haupl- und 
Obergeschoß des Fridericianums gedacht. ..Bild und Skulptur im Raum" lautet 
auch die Devise in den Ruinen der Orangerie im Auepark. die zwischen weißen. 
kontrastreichen Stellwänden die wichtigste zeitgenössische Plastik beherbergen. 
Einige Beispiele seien herausgegriffen: voluminäse. eindrucksvolle Figuren Moores. 
eine harmonische Reliefwand Nicholsons hinter einem Wasserbecken. bündelartige 
Messingskulpturen der Deutschen Brigitte Meier-Denninghoff. Reliefs Consagras. 
mobile Plastiken des Amerikaners Rickey. Arbeiten von Lipschitz und Etienne 
Martin. ..Stabile" Calders und eine große Raumplastik Krickes. 
Mit seiner 18.5 x 35 Meter großen. aus sechs Elementen mit Farbwegen zusammen- 
gesetzten begehbaren Plastik. die nach Ausstellungsschluß vor einer Berufsschule 
in Frankfurt aufgestellt werden wird. wagt der Stuttgarter Otto Herbert l-layek 
das interessanteste Experiment der diesjährigen .,documenta". 
Auf dem etwa einen Kilometer langen. durch Parkanlagen und über Stiegenauf- 
gänge am Staatstheater vorbeiführenden Weg von der Orangerie zum Fridericianum 
wird praktisch demonstriert. wie moderne Plastik aufgestellt gehört: Nicht museal. 
sondern in Verbindung zur Architektur und Natur. als künstlerische Akzente und 
geistige Ruhepole inmitten großstädtischen Getriebes. 
Unbewältigte Riesenformate. Wie sinnlos es ist. eine ..Richtung". einen ..Stil". die 
Methode als solche totzusagen. weil sie nicht gerade en vogue ist. zeigt sich im Fall 
des Amerikaners Sam Francis. Seine tachistischen, lebensfrohen Malereien stellen 
nämlich alles. was die geschickt lancierte Pop-Art bisher brachte. bei weitem in 
den Schatten. Auch die Neatigurativen. wie z. B. der Holländer Appel. der Belgier 
Alechinsky oder der Däne Asger Jorn. können den Vergleich mit Francis kaum 
bestehen. Rothko, Mathieu. Scordia und Fautrier fehlen leider. Dafür gibt es einige 
negative Ausnahmefälle. die den günstigen Gesamteindruck zwar kaum schmälern. 
aufdie man jedoch hätte verzichten können: belanglose Riesenformate von Pasmore. 
Burri. Schumacher und Hartung. Hier hätte die Jury besser auswählen müssen. 
denn von allen Genannten gibt es in reicher Zahl wesentlichere Arbeiten. 
Der Trend zum reichlich oft unbewältigten und keine Verwendung findenden 
Riesenbild dürfte jedoch im Zurückgehen begriffen sein. obwohl in Kassel noch 
genügend Formate dieser Dimensionen einander konkurrenzierten. 
Die kleineren Malereien von Tapies. die Miniaturen Bissiers. Arbeiten Massons. 
Scatts und Sugais wirken demgegenüber um vieles konzentrierter und intimer. 
Doch auch diese Beispiele sind nur Hinweise auf den umfassenden Querschnitt. 
der geboten wird. 
ln ähnlicher Weise wie die Sammlung der Handzeichnungen können die Malereien 
und Plastiken in den ..Meisterkabinetten" als historische Schwerpunkte und zugleich 
als Ausgangsbasis der diesjährigen "documenta" verstanden werden. Namen 
von Rang. aufdie in Beispielen eingangs hingewiesen wurde. Bilder und Skulpturen 
allererster Qualität zeigen. was von der Moderne heute bereits als Klassik gilt. 
Unter den sechs Ölbildern Kokoschkas befindet sich auch - als einzige Leihgabe 
einer österreichischen Sammlung - die 1955 gemalte ..Linzer Landschaft" aus 
dem Besitz der Neuen Galerie der Stadt Linz. 
Ein Musterbeispiel moderner Publikation ist der umfangreiche zweibändige. prächtig 
illustrierte Katalog. der bilderbuchortig auch demjenigen einen Eindruck von 
der Ausstellung vermittelt. der nicht nach Kassel fahren konnte. 
Der Grad der erreichten Vollständigkeit sowie die bis auf wenige. kaum vermeid- 
bare Ausnahmen erste Güte der gezeigten Werke machen Rang und Bedeutung 
dieser gehaltvollen Demonstration modernen Kunstschaffens aus und bestätigen 
das Gelingen des beispielhaften Projektes.
	        
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