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Volltext: Alte und Moderne Kunst X (1965 / Heft 78)

"l lfred Xtange 
BEMERKUNGEN ZUR GOTISCHEN MALEREI IN NORDFRANKREICH 
Im Sommer 1962 wurde im Palais Galliera in 
Paris! eine große, ebenso beachtenswerte wie 
merkwürdige Tafel mit der Darstellung der 
Austreibung der Händler und Wechsler aus 
dem Tempel versteigert. Diese Darstellung der 
Tempelreinigung 7 nunmehr im Besitz von 
llerrn Jean Neger in Paris 7 kann, wie wir 
meinen, zu einer grundsätzlichen Betrachtung 
der spätgotischen Malerei in Nordfrankreich, 
insbesondere in der Picardie, führen. So sei 
ihr zuvor eine eingehendere Betrachtung 
gewidmet. 
Das Bild 7 auf Eichenholz gemalt und 
167X98 cm groß 7 zeigt einen gotischen 
Kirchenraum, dessen tiefer Chorteil abge- 
winkelt ist. lm vorderen Schiff spielt die tur- 
bulente Szene der Austreibung. Christus steht 
links neben dem vorderen Pfeiler, zornigen 
Blickes, eine Geißel über seinem Haupte 
schwingend und mit der Linken ein Zahlbrett 
umstoßend. Solcher leidenschaftlichen Gebärde 
gegenüber weichen die Wechsler und Krämer 
erschreckt nach rechts aus. Teils verlegen, teils 
wütend blicken sie zu Christus hin. Der ihm 
am nächsten sitzende Händler hat den linken 
Arm schützend über seinen Kopf gelegt. Auch 
der hinter ihm kniende und der stehende Mann 
mit dem Lamm auf den Schultern äußern 
noch passive, mehr abwehrende Gebärden. 
Der Dicke dagegen in dem Damastgewand, der 
sich an Wechseltisch und Stuhlpfosten fest- 
hält, versucht nach der Seite auszuweichen, 
wo sich eine Front aggressiver Männer 
gebildet zu haben scheint, die ihren geöffneten 
Mündern zufolge Christus opponieren. Hinter 
ihnen entweicht einer schon durch das kaum 
sichtbare seitliche Portal. Und vorn ist eine 
modisch gekleidete Frau, die in Haltebändern 
zwei Kinder auf dem Rücken trägt und 
Körbchen mit Eiern und Täubchen an den 
Armen hält, zu Boden gesunken. Tiere füllen 
den Vordergrund neben ihr. So ist der Bibel- 
text 7 Und Jesus ging in den Tempel und 
fand sitzen da, die Ochsen, Schafe und Tauben 
feilhielten, und Wechsler, und er machte eine 
Geißel aus Stricken und trieb sie alle, Verkäufer 
und Käufer, zum Tempel hinaus, samt den 
Schafen und Ochsen, und stieß die Tische und 
Stühle um und Verschüttete den Wechslern 
das Geld (Matth. Z1, 12-13; Mark. 11, 15717; 
Joh. 2, 14-16) 7 in der Gruppierung der 
Figuren, ihren Bewegungen und ihrer Mimik 
sehr dramatisch veranschaulicht. 
Die Figuren haben verhältnismäßig kleine 
Körper, große Köpfe und sind bunt in 
modische oder auch phantastische Gewänder 
gekleidet. Da zeigt sich der Realismus des 
Malers, insgesamt ist es ein expressiver 
Realismus. Demgemäß ist die Szene kompo- 
niert. Sie ist nicht räumlich verständlich 
geordnet, überhaupt sind die Gesetze der 
Perspektive durchaus freizügig verwendet. 
Und ebenso sind die Figuren nur im All- 
gemeinsten anatomisch richtig erfaßt. Das eine 
sichtbare Bein des Mannes vorn rechts mit 
dem Böckchen vor der Brust ist völlig un- 
möglich nach rückwärts gedreht. Weitgehend 
unklar ist auch der Bau von Christi kindlichem 
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Körper, ist das Ausschreiten seines rechten 
Beines. Aber wie auch immer, jede Bewegung 
ist ausdrucksvoll sprechend, und das war dem 
Maler wichtiger als anatomische Richtigkeit. 
Aussagereich sind die Körpergebärden, sind 
die Gesten der Arme und llände. Die am 
Boden hockende Frau ist dafür ein vorzüg- 
liches Beispiel. Erschrocken über Christi 
Leidenschaft ist sie gestürzt, wendet sich ihm 
aber zugleich zu, mit der einen Hand sich auf- 
stützend, mit der anderen wie mit der Mimik 
ihres Gesichtes ihr Entsetzen ausdrückend. Als 
expressive Gebärde ist auch die Gruppe der 
Händler und Wechsler im ganzen zu verstehen. 
Die Erregung, die Wut, der böse Wille und 
wohl auch ein gewisser, sich gegen Christus 
erhebender Widerstand sind sehr anschaulich 
deutlich gemacht. Und als Ausdrucksgebärde 
ist die Architektur um die Figurengruppe 
gelegt. Sie hat sich in der Phantasie des 
Malers nicht zu einem autonomen Raummotiv 
ausgeformt, sie erstand mit den Figuren als 
Ausdeutung des Schauplatzes des aufregenden 
Geschehens und als dessen Dramatik inter- 
pretierende Gebärde. Nicht als Bühne ist sie 
verstanden, vielmehr soll sie helfen, die 
Turbulenz des Geschehens zu unterstreichen, 
ja wohl noch zu steigern. Mit diesem Ziel ist 
sie um die Figurengruppe gebaut, ist der 
Chorraum aus der Achse in die Tiefe ab- 
geknickt, ist sie staffiert. 
Der Maler hat zeichnend und malend alle 
Register gezogen, um dem Bild einen leb- 
haften, ja einen leidenschaftlichen Charakter 
zu geben. Hell belichtete und mehr im Schatten 
liegende oder auch dunkel getönte Formen 
wechseln in der Architektur des Kirchen- 
raumes in raschen Rhythmen. Dazu verdeut- 
lichen hockende Figiirchen die Funktion der 
Gewölbeansätze, zieren tänzerisch bewegte 
Gestalten, zwei ritterliche XVächter, ein Mönch 
und ein alttestamentlicher Prophet, vom die 
portalartige Rahmung. Unten aber steht 
Christus in dunkelviolettem Gewand neben 
der Frau in rotem, grün gefüttertem Mantel 
und damastenem Kleid, füllt weiterhin ein 
lebhaftes Mosaik verschiedenfarbiger Gewän- 
der die Fläche. Rot, Grün, Gelb und Blau 
sind mannigfach ineinander verflochten. Und 
das lnkarnat der Figuren spielt zwischen 
Zartgelb und Rot, bald heller, bald dunkler. 
Wie eine Gloriole umfängt der lichte Chorraum 
Christus in seinem violetten Gewand, das 
unruhige Geschiebe der Händler aber ist in 
die graugrüne Wand rechts eingebunden. 
Diese wiederum gewährt in der Mitte, wo die 
Gruppe davor sich teilt, durch eine Tür einen 
Ausblick auf einen von Häusern mit Staffel- 
giebeln umgebenen Hof, eine für die Land- 
schaft sehr charakteristische Baugruppe. Zwei 
Neugierige blicken, sich mit den Körpern 
hinter den Wänden bergencl, heimlich herein. 
Und am Altar agieren zwei grotesk kostü- 
mierte Priestergestalten; einige Figürchen 
stehen davor. 
Nichts in dem Bilde, so unruhig es zuerst 
erscheint, ist dem Zufall überlassen. Wie viele 
spätgotische Maler bedrängte den Meister 
eine ängstliche Scheu vor leerer Fläche. Die 
 
ANMERKUNGEN: 1 
I Vrtstcigcrungskalalog des Palais GllllCtil, Paris, 25. Juni 1952, 
Nr. 54.
	        
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