Emil Rainer DIE GEISTIGE WELT EL GRECOS
Als El Greco im Jahre 1614 starb, zeigte sich,
daß er seine letzten Jahre in Armut verbracht
hatte. Das große Haus, das er in Miete hatte,
war fast leer, er hatte Schulden, und sein
Nachlaß bestand im wesentlichen aus über
400 fertigen und angefangenen Bildern, ein
Zeichen, daß Käufer seltener geworden waren.
Alt und krank, hatte er für seinen Lebens-
unterhalt fast seinen ganzen Hausrat verkaufen
müssen. Aber von seinen Büchern hat er sich
nicht getrennt. In seiner Jugend hatte er
eine überdurchschnittliche Bildung erworben,
die ihm hohes Ansehen bei den Humanisten
unter dem Klerus eintrug. Wahrscheinlich von
Kreta her führte er durch seine Wanderschaft
griechische Klassiker mit; anderes hat er in
Italien und Spanien dazugekauft, zum Beispiel
Werke über Architektur und Medizin. Wir
sehen, daß er bis zum Tode vielseitige geistige
Interessen hatte. Als denkender Künstler zeigt
er sich uns in allen seinen Arbeiten.
Um ihm bei seinem Werke zu folgen, beginnen
wir mit der Grablegung des Grafen Orgaz,
der um das Jahr 1300 in Toledo gelebt hat
und bei dessen Begräbnis zur Belohnung seiner
tiefen Frömmigkeit die Heiligen Augustinus
und Stephanus erschienen sein sollen, um ihn
in die Gruft zu betten, die er sich in der dortigen
Thomaskirche hatte anlegen lassen.
Am 23. Oktober 1584 stimmte der Erzbischof
von Toledo dem Antrage des Pfarrers der
Thomaskirche zu, das Mirakel malen zu lassen;
aber erst am 18. März 1586 wurde der Vertrag
mit El Greco geschlossen. In der langen
Zwischenzeit war das Werk im Geiste und
wohl auch in den Skizzenbüchern des Künstlers
in allen Einzelheiten ausgereift, so daß das
ligurenreiche und mit bewunderungswerter
Sorgfalt ausgeführte Bild, das 4,80 m hoch und
3,60m breit ist, schon zu Weihnachten des
gleichen Jahres fertig war.
Links von der Mitte der unteren Bildhalfte
vollzieht sich das Wunder. Längst hatte
El Greco die Architekturkulissen italienischer
Malerei aufgegeben, und nun führt er uns in
eine Kirche ohne Mauern und Altäre zu einem
Begräbnis ohne Katafalk und Blumen. Fackel-
licht durchbricht das nächtliche Dunkel. Dicht-
gedrängt reihen sich im Hintergründe die
Freunde des Verstorbenen aneinander, er-
griffen vom Erscheinen der Heiligen, die den
Toten in die Gruft senken, an deren Rand
sie anscheinend stehen. Wie ein leuchtendes
Medaillon hebt sich die farbenprächtige, fast
kreisrund abgeschlossene Bestattungsszene von
der Kleidung der Trauergäste ab. Der heilige
Augustin ist als Bischof von Hippo gemalt,
ein ehrwürdiger Greis mit durchgeistigtem
Asketengesicht, St. Stephan ist ein Jüngling
in Diakongewand. Links von ihnen stehen
zwei Mönche, die den Toten in die Kirche
getragen hatten; demütig waren sie zur Seite
getreten, als die llciligen ihnen den letzten
Dienst am Verstorbenen abnahmen. Den
Mönchen gegenüber an der Kopfseite des
Grafen wird für ihn das Offizium gehalten.
In die Einsegnung vertieft, hat der Priester
das Wunder noch nicht wahrgenommen,
ebenso der Mesner, der das hochragende
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Kreuz hält. Aber dem andern Geistlichen im
Weißen Chorhemd enthüllt eine Vision die
Vorgänge im Himmel. Überlebensgroß gemalt
stellt er den Zusammenhang der beiden
Bildteile her.
Schon beim Sterben des Grafen zeigt sich uns
seine Auserwähltheit. Nicht als schreckhaftes
Gerippe, das eine Knochenhand nach seinem
Opfer ausstreckt, ist der Tod zu ihm ge-
kommen, sondern als milder Engel, der in
seinen Armen die Seele in der hauchfeinen
Gestalt eines mit der Sündenwelt noch nicht
in Berührung gekommenen Embryos empfängt
und mit ihr zum Wolkengiirtel auflliegt, der
den Himmel von der Erde trennt. Nun er-
kennen wir, warum die Leichenstarre den
Toten noch nicht ergriITen hat, denn er hat
ja erst kurz vorher seine Seele ausgehaucht.
Die Bestattung folgt also rasch dem Tode.
Zu einer Aufbahrung blieb keine Zeit, und
die schimmernde Rüstung, in der der Graf
gestorben war, wurde ihm zum Sarge.
Der Komposition der oberen Bildhälfte kam
der bogenförmige Abschluß der Mauernische
entgegen, für die das Bild bestimmt war. So
wurde Christus, in äußerste Ferne und Höhe
gerückt, gebührendermaßen die beherrschende
Gestalt der hehren Versammlung. In allum-
fassender Liebe hält Er die Arme ausgebreitet,
himmlisches Licht strahlt von Seinem Haupte
aus, durchdringt das Leichentuch, das Ihn
umhüllt, und leuchtet der Seele als Will-
kommsgruß entgegen. Cherubim umschweben
Ihn. Im Vordergrunde unter Ihm sitzen rechts
Johannes der Täufer und links die heilige
Maria, deren Wink die Wolkendecke geöffnet
hat, damit die Seele ins Himmelreich auf-
steigen kann. Marias Gesicht ist von solchem
Liebreiz und ihre Haltung von so unirdischer
Würde, daß sich schon damit El Greco als
ganz großer Künstler erweist. Der heilige
Johannes mit seinen ungestümen Gebärden
und seiner mangelhaften Kleidung ist wie aus
jener Zeit dargestellt, als er noch scheltend und
bußemahnend in der Wüste umherwanderte.
Nur er, der Christus getauft hatte, durfte sich
vor Seinem Antlitz so zwanglos gehenlassen.
An einer Wolke in der Nähe der Madonna
lehnt St. Petrus, der zum Empfang der Seele
seinen Platz an der Himmelspforte verlassen
hat. Links unter ihm erblicken wir Noah mit
der Arche, Moses mit den Gesetzestafeln und
David mit der Harfe. Rechts gegenüber erhebt
sich Lazarus zu neuem Leben. Zwei Frauen,
vermutlich Martha und Magdalena, halten sich
im Hintergründe. Eine Schar Seliger schließt
sich dem Täufer an, darunter der König, der
Papst, der heilige Thomas mit dem Winkelmaß
und hinter ihm Doüa Jeronima de las Cuevas,
die frühverstorbene Mutter von Gtecos Söhn-
chen Jorge Manuel.
Der Volkssage nach waren die beiden Heiligen
zum Begräbnis vom Himmel herabgekommen.
Aber da der Durchgang oben nicht frei war,
hat E1 Greco sie als Kirchenstatuen gemalt.
Belebt durch das göttliche Wort sind sie
von ihren Postamenten herabgestiegen, um
still auf ihre Plätze zurückzukehren, als sie
ihren Auftrag erfüllt hatten.
Poetische Zartheit erfüllt das Gemälde. II
Wunden Christi sind vernarbt, Maria ist v1
ihrem Schmerz genesen, das Haupt d
Täufers ist wieder an seiner Stelle und au
St. Stephan ist nun heil; nur auf seiner D:
matica ist seine Steinigung abgebildet. IV
geradezu magischer Kunst erweckt El Grei
im Beschauer die lllusion, daß alle Gestalt
sich bewegen. Selbst der Himmel ist nicht
Ruhe. Der Reigen der Seligen schwebt :
Christus heran, der sich ihnen und dem B
trachtet zu nähern scheint, und am Spiel d
Wolken nehmen die kleinen Englein te
Unten stehen die Männer so eng beisamme
daß sie sich kaum rühren können, doch w
dynamisch ist ihre Anteilnahme am Vorgang
Pulsierender Herzschlag durchbebt sie, ui
wenn ihr Mund geschlossen ist, sprechen u
so lauter ihre Augen und die Gesten der Händ
So bewegt ist die Szene, daß der Tote, 11.01
lebenswarm, vor unseren Augen langsam
die Tiefe zu gleiten scheint.
In eine Ecke der Tempelaustreibung, die sii
jetzt in Minneapolis befindet, hat El Grec
zweifellos erst nach Vollendung des XVerkc
Brustbilder von Tizian, Michelangelo, Clov
und Raffael gemalt. Ich glaube, daß dies
Postpictum gerade so wie die bekannte Krit
an Michelangelo eine Äußerung seines stark:
Selbstbewußtseins ist, indem er diese MaL
voll Befriedigung mit seinem Werke koi
frontiert. In seinem Künstlerstolz hat er sir
nicht gescheut, ein religiöses Gemälde durt
eine inhaltsfremde Zutat zu entstellen. Etw;
Ähnliches finden wir auf dem ()rgaz-Bild
Auch dort sehen wir eine Gestalt, die zui
Gemälde keine Beziehung hat; es ist El Grec:
Söhnchen Jorge Manuel, das damals acl
Jahre alt war, wie uns das Datum auf seinen
Taschentuche unterrichtet. Der Vater hat d:
Kind wie einen Trauergast gekleidet und ihi
auch eine Fackel in die Hand gegeben. Trotz
dem sticht der Knabe von seiner Umgebun
ab. Man erkennt, daß für ihn im Konzept dt
Bildes kein Platz vorgesehen war, denn t
mußte in unbequemer Haltung niederknien un
ein Bein abbiegen, um die Steinigung nicht z
verdecken. Von niemandem zeigen sich di
Füße, und der Fußboden ist nicht einmal ar
gedeutet; hingegen sehen wir die Fülle, di
Jorge Manuel auf den Boden setzt. Es ist klai
daß der Knabe eine nachträgliche Improvi
sation ist. Sich dem Beschauer zuwenden
und mit dem Finger auf das Wunder weisenc
scheint er beifallheischend sagen zu woller
daß schon ein Kind erkennen kann, welcl
sublimes XVerk sein Vater geschaffen hal
VUieder tritt uns das ungebändigte Selbst
gefühl El Grecos entgegen.
Nur von seiner Arbeit lebend, konnte El GIEG
auch Aufträge, die ihm zuwider waren, nich
ablehnen, besonders wenn sie von hohe
weltlicher oder kirchlicher Stelle kamen. Abe
in seinem Werke distanzierte er sich unmiß
verständlich von der Tendenz solcher Themen
selbst wenn er dadurch die Harmonie seine
Kompositionen stören mußte.
Der heilige Martin, Bischof von Tuurs in
vierten Jahrhundert, begegnete in seiner Ju
gend, als er noch Soldat war, an einem kalter
Wintertage einem Bettler, der unter seiner
DIE GEISTIGE WELT EL GRECOS